Der Abstieg der Mittelschicht

Von Friedrich Thelen |
Eine Angst geht um in Deutschland - nicht die vor Krieg, Klimawandel oder Terrorismus, sondern die vor dem Abstieg. Irgendwie fürchten die Deutschen auch noch die Globalisierung, ohne diese Angst so richtig präzisieren zu können. Aber ihr vages Gefühl hängt mit dem Abstieg direkt zusammen.
Durch die Globalisierung ist die Welt zum globalen Dorf geworden. Der grenzenlose Austausch von Waren und Dienstleistungen hat einen ungeheuren Wachstumsschub ausgelöst und beschert den Menschen einen bisher nie gekannten Wohlstand: Die Weltwirtschaft boomt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Aber wer reich und arm, Gewinner und Verlierer ist, diese Rolle wird neu verteilt. Und diese revolutionäre Veränderung hat in Deutschland nun die Mitte erreicht. Drastisch formuliert: Die Angst vor der Armut ist von den Rändern der Gesellschaft in die Mitte gewandert. Das belegt die jüngste Studie des Berliner Instituts für Wirtschaftsforschung, kurz DIW. Nach dessen Studie sank der Anteil der Bevölkerung, der statistisch zur Mittelschicht gerechnet wird, von 49 auf 44 Millionen, in%en von 62 auf 54 Prozent. Das ist immer noch ein erheblicher Teil der Gesellschaft, rechnet man die anderen oberen 20 Prozent hinzu. Aber es heißt doch, dass mittlerweile 26 Prozent der Deutschen mindestens teilweise auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Und genau vor dem Abstieg in diesen sozialen Sektor fürchtet sich die Mittelschicht.

Sie entdeckt am eigenen Leibe schmerzlich, dass die felsenfeste ökonomische Sicherheit der ersten 50 Jahre der Bundesrepublik verloren geht. Die klassischen Arbeitsverhältnisse nehmen ab, die Teilzeit-Beschäftigungen nehmen zu und insgesamt gilt nicht mehr, dass ein Beschäftigter bei Siemens oder Krupp bis zum Berufs-Ende darauf vertrauen kann, ausreichend Geld zu verdienen. Dies gilt nicht mehr und wird auch so nicht wiederkehren.

Politiker, die ihren Wählern versprechen: Wählt ihr mich, so bekommt ihr die Sicherheit der alten Verhältnisse zurück, sagen schlicht die Unwahrheit. Und weil es die leidige Popularitätshascherei vielen Volksvertretern verbietet, dies auszusprechen, muss man es dazusagen: Es gibt auch Gewinner der globalen Mobilität in Deutschland. In den letzten fünf Jahren sind laut DIW-Studie elf Prozent aus der Mittelschicht in höhere Einkommensklassen aufgestiegen. Deutlich zugelegt aber haben die oberen Einkommensschichten.

Und damit beginnen die Probleme. Es ist in der Tat so, dass der Graben zwischen Arm und Reich tiefer geworden ist. Statistisch und ökonomisch spielen die Spitzenmanager, deren Einkommen massiv gestiegen sind, keine Rolle. Denn numerisch sind sie unbedeutend. Aber als Symbol für eine ungleiche Verteilung des Wohlstandes der Gesellschaft ist ihre Rolle gar nicht zu unterschätzen. Ein Teil der Erfolge der Linkspartei beruht auf genau diesen, manchmal sogar kriminellen, zumindest aber unerfreulichen Verhaltensweisen des ökonomischen Führungspersonals.

Tatsache ist aber auch, dass diese Entwicklung in den anderen westlichen Industriegesellschaften ebenfalls stattgefunden hat und noch stattfindet. Bei den Engländern und Amerikanern begann dieser Prozess schon in den achtziger Jahren. Nun stellt sich der Politik aber auch den gesellschaftlichen Gruppen der Bundesrepublik die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die sozialen Gruppen nicht den langfristig gültigen Konsens verlieren. Er war und ist der Zement, der die deutsche Gesellschaft zusammengehalten hat und noch zusammenhält. Denn die breite und stabile Mittelschicht, transparent und sozial mobil, ist der Garant für gefestigte Demokratie.

Der Ruf nach höheren Steuern ist in dieser Situation wohlfeil, aber falsch. Durch sie kommt kein einziger verlorengegangener Arbeitsplatz zurück. Im Gegenteil, weitere verlassen das Land. Dazu werden noch weitere Unternehmen in Billiglohnländer selbst in Europa ausweichen. Empfehlenswerter ist dagegen, sich des einstigen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder und seiner Rezepte zu erinnern. Die Entlastung der Bürger von den allzu schweren Abgaben und Steuern und die Reduzierung der Staatsausgaben sind das richtige Projekt. Auch wenn dies mittlerweile von den eigenen Parteifreunden verschwiegen wird, gilt es zu erinnern, dass seine Politik eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Noch heute lebt die Große Koalition von den späten Früchten seiner Politik.

Als weiteres Rezept schlagen die Systemkritiker vor, aus der Globalisierung auszusteigen. Aber die kann keiner mit einem Zauberspruch wieder in die Flasche bannen und mit einem sicheren Korken verschließen. Es gilt vielmehr, mit ihren Folgen fertig zu werden. Und da die großen ökonomischen Zugewinne nicht mehr über die Löhne zu gerieren sind, warum entschließt sich die deutsche Politik nicht vielmehr zu einem Ankoppeln an die Unternehmensgewinne durch ehrliche Beteiligungen.

Das hat in Deutschland noch niemand richtig versucht. Alle bisherigen Ansätze litten unter den Machtinteressen der beteiligten Unternehmen, Parteien und Gewerkschaften. In den USA ist dies ein Jahrzehnte altes Erfolgsmodell, das die Mittelschicht von Arbeitern und Angestellten ökonomisch stabilisiert. Das könnte man doch einmal auch bei uns versuchen? Und dazu gleichzeitig eine massive Bildungsoffensive starten, die den einzigen wirklichen Rohstoff der Deutschen so richtig Gewinn bringen lässt.

Dr. Friedrich Thelen, Jahrgang 1941, studierte Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie. Er ist jetzt als Publizist tätig und war bis vor kurzem Büroleiter Berlin der "Wirtschaftswoche". Er hat langjährige berufliche Erfahrungen im angelsächsischen Raum.