Der Abgrund hinter den Dingen

Heldin des in den USA gefeierten Debüt-Romans von Marisha Pessl ist Blue, die Tochter eines unstet durch die Vereinigten Staaten reisenden Professors. Die 16-Jährige kommentiert mit viel Ironie ihre Erlebnisse mit Gleichaltrigen und mit ihrem Vater, der in jedem Semester eine neue Stelle an einer anderen drittklassigen Universität annimmt. Das Buch ist frisch geschrieben und strotzt – manchmal zu sehr – vor originellen Formulierungen.
Geradezu enthusiastisch wurde der Debüt-Roman der 29-jährigen New Yorkerin Marisha Pessl von der US-amerikanischen Kritik aufgenommen: Was steckt dahinter?

Ein umfangreiches Buch mit einem auffallenden, rätselhaft bleibenden Titel. Das Cover ist ansprechend gestaltet, auffallend romantisch-kitschig – soll das etwas über den Inhalt des Romans sagen? Ist es ironisch gemeint? Vielleicht.

Blue, die 16-jährige Erzählerin des Romans, zieht seit dem frühen Tod ihrer Mutter mit ihrem Vater durch die USA. Der Professor der Politikwissenschaften nimmt jedes Semester eine neue Stelle an einer anderen drittklassigen Uni an; er macht ein Prinzip aus der Verweigerung gegenüber den Institutionen, der bourgeoisen Sesshaftigkeit, der selbstzufriedenen Borniertheit der akademischen Wissenschaft. Am Ende freilich erfährt man einen anderen Grund für dieses unstete Wanderleben. Aber der soll hier nicht verraten werden.

Blue verlebt ihre Kindheit und Jugend im Auto auf der Reise zwischen Orten, an denen sie nie sesshaft wird. Sie wächst auf mit einer wahren Bildungsflut. Ihr Vater hält ihr während der Reisen systemkritische Vorträge über Politik und über Weltliteratur. Blue saugt alles Wissen passiv oder begierig (man erfährt es nicht recht) auf, ist in jeder Schule, in die sie kommt, die Beste, und bleibt – was Wunder – immer isoliert. Schließlich bleiben die beiden für ein Jahr an einem Ort.

Blue gerät in die Clique von fünf blasierten, trink- und sexlustigen Halbwüchsigen, die den Bücherwurm freilich auch nur halb akzeptieren. Die Clique wird verbunden durch die Zuneigung zu der geheimnisvollen Lehrerin Hannah. Hannah, so erfahren wir bereits auf der ersten Seite, wird irgendwann von Blue tot aufgefunden – erhängt.

Der Roman erzählt also die Vorgeschichte, die zu diesem Tod führt, aber irgendwann im Laufe des mäandernden, letztlich ereignislosen Romans vergisst man völlig, sich zu fragen, was da eigentlich geschehen ist. Am Ende erfährt man es, da ist es aber fast schon egal. Was ein Hauptkritikpunkt an diesem Roman ist.

Zweifellos ist die Geschichte ungewöhnlich, zweifellos ist Blue eine ungewöhnlich intelligente und kritische und einsame Protagonistin und eine durchaus ironische Erzählerin. Zweifellos ist es eine Kunst, Ereignisse und Menschen so zu schildern, dass sie rätselhaft bleiben. Unablässig wird man darauf gestoßen, dass irgendetwas hinter den Kulissen stattfindet, dass Menschen nicht (nur) so sind, wie sie scheinen, sondern dass sie auch verborgene, abgründige Seiten haben. Am Ende wird das ganz offensichtlich, als Blues gesamtes bisheriges Leben zusammenbricht und sie allein in die Zukunft aufbricht.

Dennoch: Der Roman zeichnet sich durch eine gewisse Beliebigkeit aus. Er ist angelegt wie eine Lektüreliste; alle Kapitel tragen Titel von wichtigen Werken der Weltliteratur (vorzugsweise der englischsprachigen); der Bezug bleibt freilich ungenau und beliebig. Die Zitate und vor allem die ungezählten Quellenangaben von wissenschaftlicher Literatur im Text, von denen die Wissenschaftlertochter Blue geradezu besessen ist, sind mal witzig, mal erfunden – und auf die Dauer ermüdend.

Noch viel ermüdender sind die unzähligen, mehrgliedrigen und mit Adjektiven überhäuften Vergleiche, die dem Text eine eigenwillige, originelle und poetische Note geben sollen und auch zunächst einen gewissen Charme haben. Man wird ihrer jedoch rasch überdrüssig, weil diese Vergleiche offensichtlich nach Ideen aus dem Kurs „Kreatives Schreiben“ konstruiert sind und keine neuen Wahrnehmungsweisen eröffnen, sondern nur zeigen, wie bemüht die Autorin ist, eine eigene Stimme hören zu lassen:

Ein Pelzmantel liegt auf der Klavierbank „wie eine schimmernde, dankbare Sekretärin, die gerade in Ohnmacht gefallen war“, die Sonne „lockerte ihren Zugriff auf den Rasen, und rüschenartige schwarze Schatten lagen überall kollabiert auf meinem Fußboden herum, wie dürre Witwen, die jemand mit Arsen umgebracht hat“. Weniger wäre eindeutig mehr gewesen.

Auch Blue selbst, die doch die Geschichte erzählt, wird nicht ganz greifbar, bleibt eine konstruierte Figur aus Zitaten, Beobachtungen, Selbstironie und Distanz. Entsetzen, Verzweiflung, Depression – alles das nimmt man ihr nur halb ab. Sie bleibt hinter einer Mauer aus Worten verborgen.

Verschwörungsphantasien sind Signum einer bestimmten Ausprägung der Postmoderne, Thomas Pynchon hat das unter anderem in „The Crying of Lot 49“ eindrücklich in Szene gesetzt. „Die alltägliche Physik des Unglücks“ ist davon ebenso inspiriert wie von der ungebrochenen postmodernen Vorliebe für Bücher über Bücher sowie von dem gegenwärtig in den USA so beliebten Trend zu umfangreichen, unterhaltsamen Romanen, die im Alltäglichen das Skurrile finden und daraus das Abgründige entfalten, das dann wieder zurückgeführt wird in ein bejahendes, positives Ende.

Mit ihnen gemeinsam hat „Die alltägliche Physik des Unglücks“ auch die Beherrschung des Handwerkszeugs. Zweifellos hat „Die alltägliche Physik des Unglücks“ in diesem Konzert des Erzählens eine eigene Stimme; ob diese Stimme länger trägt, bleibt abzuwarten.


Rezensiert von Gertrud Lehnert

Marisha Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
528 Seiten. 19,90 Euro
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