Der 9. November - "Schicksalstag" der Deutschen

Von Zafer Senocak · 09.11.2007
Bis zu meinem zwölften Lebensjahr fühlte ich mich als Urenkel der Osmanen. Meine Vorfahren waren Eroberer gewesen. Sie beherrschten die halbe, damals bekannte Welt, waren anderen überlegen. Die meisten Sultane waren blutrünstige Herrscher gewesen, viele von ihnen töteten sogar ihre Brüder, um ihre tyrannische Macht zu sichern.
Und die Erfolgsgeschichte, die Ausdehnung des Reiches bis vor die Tore Wiens, die Blütezeit reichte nur bis zum 17. Jahrhundert. Danach Stagnation, Verfall und Zusammenbruch. Viele Fragen drängten sich auf. Wenn Fragen gestellt werden, verliert Geschichte ihren trostspendenden Charakter. Sie wird fragwürdig, unheimlich, sie wird zu einem Minenfeld.

Vom zwölften bis zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr war ich Kommunist. Ich suchte nach kommunistischen Vorbildern in der islamischen, speziell in der osmanischen Geschichte und wurde fündig. Bücher mit Titeln wie "Kalif Omar der Erste Sozialist" fielen mir in die Hände. Bücher dieser Art stammten meistens aus Ägypten. Sie waren zu Zeiten Gamal Abdel Nassers publiziert worden. In der Türkei dagegen wurden die Kommunisten verfolgt und kaum jemand wäre zum Beispiel auf den Gedanken gekommen, Mehmed II., den Eroberer von Istanbul als Kommunisten zu bezeichnen. Für mich aber sprach einiges dafür. Mehmed hatte Boden enteignet, die Grundnahrungsmittel unter staatliche Preiskontrolle gestellt. Später las ich die Werke des Scheichs Bedreddin, eines Mystikers aus dem 15. Jahrhundert, der dafür plädierte, das Privateigentum ganz abzuschaffen. Alle Güter seien zu teilen, ausgenommen die Frauen. Der revolutionäre Dichter Nazim Hikmet hatte ein Poem über Bedreddin geschrieben. Er feierte ihn als strengen Materialisten und weitsichtigen Frühkommunisten.

Mit Anfang 20, so um das Jahr 1983 herum, kam ich in der Gegenwart an. Man könnte auch sagen, ich wurde erwachsen. Ich lebte schon seit 1970 in Deutschland unter den Deutschen. Bis in die achtziger Jahre aber war mir diese Begebenheit, abgesehen davon, dass ich die deutsche Sprache hatte erlernen müssen, nicht besonders aufgefallen. Die Erinnerung der Deutschen war überschaubar, wenn auch unheimlich. Sie erinnerten sich vor allem an 12 Jahre ihrer Geschichte, an die Jahre zwischen 1933 und 1945. Einen Nationalfeiertag gab es nicht. Dafür unzählige religiöse Feiertage, denn ich lebte damals in München, also in Bayern. Bayerische Geschichte hat mich nie sonderlich interessiert, sie war einfach zu gegenwärtig, die deutsche Geschichte aber umso mehr, zumal sie wie eine Geheimsprache gehandelt wurde. Nicht Könige und Staatsmänner waren die Hauptakteure, sondern Dichter und Denker. Dichterfürst ist so ein typisch deutscher Begriff, der sich in keiner anderen Sprache finden lässt.

Dann fiel die Mauer. Ausgerechnet im November. Ausgerechnet am 9. November. Zwar ist Deutschland - trotz der Emsigkeit der letzten Jahre - ein besonders armes Land, was nationale Denkmäler und Statussymbole angeht, doch der November mit seiner Anhäufung von Gedenktagen füllt diese Symbolleere schon wieder fast ganz auf. Der November dieser triste Monat. Er passt zum deutschen Gemüt, wenn man dem Klischee folgen will. Wer sich der Novemberstimmung nicht hingibt, ist in Deutschland fremd.

Der Mauerfall hat bei vielen Deutschen Emotionen in Gang gesetzt. Die Deutschen sind wieder ein Volk. Auch ich bin Stolz darauf, noch vor dem Fall der Mauer nach Berlin gezogen zu sein. Geschichte hautnah erleben, nennt man so etwas. Doch wessen Geschichte erlebte ich da? Jedes historische Ereignis lebt von seiner Vorgeschichte. Ich aber habe keine Vorgeschichte in Deutschland. Ebenso wenig haben es meine Eltern und Großeltern. Mehmed II. und Bedreddin waren keine Deutschen. Atatürk auch nicht. Sie haben keine deutschen Kriege geführt, keine deutschen Friedensabkommen gefeiert oder erlitten.

Als die Mauer fiel, wurden einige Berliner Türken reich. Sie hatten einen Gemüseladen oder waren Autohändler. Andere standen von morgens bis abends in der Kälte und boten den Mauertouristen sorgfältig in Plastik eingepackte Mauerstücke an. Nicht der Schmerz, den die Mauer den Deutschen zugefügt hatte, dürfte ein Thema für sie gewesen sein, sondern der materielle Gewinn, der sich aus ihrem Fall schöpfen ließ.

Die Zuwanderung verleiht der deutschen Erinnerungskultur eine Brisanz, die nach wie vor kaum wahrgenommen wird. Auch nicht in den so genannten Integrationsdebatten. Die deutsche Sprache kann man erlernen, doch jedes Wort hat auch eine Geschichte. In der Geschichte der Wörter ist eine verborgene Sprache, die man nicht durch einfaches auswendig lernen beherrschen kann. Man kommt aber nicht umhin, sich mit diesem seelischen Vokabular und seiner Grammatik zu beschäftigen, wenn man in einem Land beheimatet sein will.

Doch sind Menschen in unserer Zeit überhaupt noch irgendwo beheimatet? Die Grenze zwischen den Begriffen Bürger und Wohnbevölkerung ist verschwommen. Dennoch: Nicht die Verfassung eines Landes, sondern seine Geschichte verschlüsselt Zugehörigkeit.

Der November aber ist ein besonders nebelreicher Monat.


Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, schreibt regelmäßig für "die tageszeitung" sowie für andere Zeitungen (u. a. "Berliner Zeitung", "Die Welt"). Arbeiten von Zafer Senocak wurden bislang ins Türkische, Griechische, Französische, Englische (u. Amerikanische), Hebräische und Niederländische übersetzt. Er erhielt mehrere Stipendien und 1998 den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben. Veröffentlichungen u. a. "Fernwehanstalten 1994. Nâzım Hikmet: Auf dem Schiff zum Mars." Zusammen mit Berkan Karpat,1998. "Tanzende der Elektrik. Szenisches Poem. Zusammen mit Berkan Karpat, 1999. "Die Tetralogie Der Mann im Unterhemd. Prosa." Berlin (Babel) 1995. "Die Prärie." Hamburg (Rotbuch) 1997. "Gefährliche Verwandtschaft. Roman." München (Babel) 1998. "Der Erottomane. Ein Findelbuch." München (Babel) 1999. "Atlas des tropischen Deutschland. Essays." Berlin (Babel) 1992, 1993 "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas. Essays." Berlin (Babel) 1994. "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation." München (Babel) 2001. Gerade erschienen ist sein Buch "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch".