Denker im Ost-Mikrokosmos

Rezensentin: Jacqueline Boysen |
Die DDR-Philosophie wurde unter Parteikontrolle zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung umgestaltet. Dennoch gab es noch in den 60er Jahren eine Reihe von eigenständigen Denkmodellen, die Hans-Christoph Rauh in seinem Buch unter die Lupe nimmt. Dies ist der zweite Band des Autors zur frühen DDR-Philosophie im Ch. Links Verlag.
"Denkversuche" nennt Herausgeber Hans-Christoph Rauh seinen Band über die DDR-Philosophie der 60er Jahre. "Innenansicht" wäre vielleicht der passendere Titel gewesen: Wie Mitherausgeber Peter Ruben und der überwiegende Teil der Autoren des dickleibigen Sammelbands ist auch Rauh nicht nur der Materie kundig, sondern Zeitzeuge, Insider und Betroffener. Der DDR-Philosoph wurde 1982 als Chefredakteur der Deutschen Zeitschrift für Philosophie abgesetzt und doch vier Jahre später Professor für Dialektischen Materialismus an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, wo er schließlich zum Leiter des Philosophischen Instituts avancierte.

Erfolgreich konnte der Erkenntnistheoretiker seinen Ruf in der Nachwendezeit verteidigen: Seine Klage gegen die Abwicklung hatte Erfolg, Forschung und Lehre blieben ihm weiter offen.

Rauh: "Wir wissen, dass der Lehrbuchmarxismus alles dominierte."

Und also ist es kein Wunder, dass auf dem Titel des Bands ein Bild des dogmatischen SED-Ideologen Kurt Hager prangt. Auch der Elfenbeinturm war in Zeiten der wissenschaftlich-technischen Revolution vereinnahmt, die Partei gängelte nicht zuletzt ihre Denker in bekannter Manier.

So ist ein Kapitel dem traurigen Schicksal des Grundlagenwerks "Marxistische Philosophie" aus dem Jahr 1967 gewidmet: Das Buch, zunächst gelobt, wurde sodann von Hager für revisionistisch befunden und also nach allen Regeln des Stalinismus unterdrückt – "eliminiert", sagt Herausgeber Rauh und erinnert an die institutsinterne Bezeichnung der verfemten Schrift: "das gelbe Ungeheuer".

Nun soll nicht der Eindruck entstehen, hier werde ein historischer oder systematischer Abriss der DDR-Philosophie geliefert. Hans-Christoph Rauh will seinen Sammelband vielmehr als ideengeschichtliches Mosaik oder Aggregat verstanden wissen:

Rauh: "Die Fachphilosophen wissen das ja, was der Unterschied zwischen einem mechanischen Aggregat und was ein organisches Ganzes, im Hegelschen Sinne "ein System" ist. Das liegt nicht vor, sondern es schimmern, wenn man so will, die Betrachtungen der einzelnen Autoren durch. Man muss sich die einzelnen Beiträge anschauen, dann sieht man die Vielfalt der Standpunkte, die Vielfalt der Darstellungsweisen. "

Keineswegs sammeln die Autoren Beispiele für häretisches Gedankengut, vielmehr beschreiben die meisten von ihnen die eigene geistige Entwicklung im DDR-Mikrokosmos.

Deutlich wird, wie internationale Debatten weit entfernt waren. Wechselseitige Inspiration, Denkanstöße aus Schulen aufklärerischen Philosophierens scheinen in den 60er Jahren in der DDR kaum aufgenommen worden zu sein – die so fixierte Denknorm bedingt eine Form der Eingleisigkeit auf recht schmaler Spur. Rauh bekennt sich noch heute zu seiner Verwunderung über einen Ausspruch des westdeutschen Philosophen Herbert Schnädelbach, der ihn einst konfrontierte und verwirrte mit dem Satz: Die Philosophie ist ein Plural.

Rauh: "Die Einmaligkeit der DDR-Philosophie, wie sie entstanden ist und wieder abgetreten ist, selbstverschuldet und länderspezifisch, nationalgeschichtlich, das bedeutet nicht, zu vergessen, was wir bewerkstelligt haben, aber der Trend ist ein objektiver, den auch die DDR-Philosophie einholte."

Was bleibt nach dem Fall der Mauer, die bekanntlich auch durch unsere Köpfe ging, vom Idealismus einer Philosophen-Generation, die einst das geistige Fundament einer schönen neuen Welt legen wollte?

Man wird den Verdacht nicht los, die befragten DDR-Wissenschaftler wollen nicht nur dokumentieren, sondern auch retten, was nicht mehr zu retten ist: Zu eng war die Verknüpfung von hehrer marxistischer Gedankenwelt und der eigenen Biographie und allzu offenkundig das reale Scheitern der Parteidiktatur. Immerhin unternehmen die Autoren den Versuch, ihr eigenes Tun und Denken zu bilanzieren. Rauh fragt gar, ob man sich zu viel hat gefallen lassen. Darin liegt das Verdienst der rückblickenden Ausführungen: So sei die Auseinandersetzung mit den eigenen Werken auch westdeutschen Philosophen empfohlen.

Hans-Christoph Rauh, Peter Ruben (Hrsg.): Denkversuche. DDR-Philosophie in den 60er Jahren
Christoph Links Verlag, Berlin 2005,
560 Seiten, € 34,90