Denken im Chaos der Zettelwirtschaft
Walter Benjamins Werk ist ein Reservoir von Texten, Kommentaren, Elementen des Alltags. Techniken des Sammelns und Archivierens prägten die Arbeitsweise des Schriftstellers. Die Ausstellung "Walter Benjamins Archive - Bilder, Texte und Zeichen" in der Berliner Akademie der Künste zeigt eine konzentrierte Auswahl aus Benjamins Werk.
In seiner unverkennbaren Handschrift, mikroskopisch fein ziseliert, hat Walter Benjamin das Konzept für seine Arbeit über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" notiert. Der kaum sechs, sieben Zentimeter breite Papierstreifen, fast ein Briefmarkenformat, dürfte ein Traum für jeden antiquarischen Sammler sein. Ebenso das Notizbuch mit eng beschrieben Seiten zum berühmten "Passagenwerk". Aber nicht um den Genuss des Connaisseurs geht es in dieser Ausstellung, sondern um Porträt und intellektuelle Physiognomie des Autors, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm. Um jene ganz besondere Schreib- und also auch Denkweise, die Erdmut Wizisla als Leiter des Benjamin-Archivs vor allem aus Manuskripten, aus Handschriften herauszulesen hofft:
"Archivare sind diejenigen, die am dichtesten an den Werken dran sind, weil sie sie in ihrem Entstehen rekonstruieren können, weil sie die Handschrift lesen können, weil sie die Lebenszeugnisse ertasten, erfühlen können. Also, dieses sinnliche Moment der Archivarbeit, das führt doch dazu, dass ein unverfälschtes Bild, nicht von Ideologie, nicht von den großen Grabenkämpfen beeinflusstes Bild der Autoren entsteht."
Benjamin nahm die Wahl des Papiers und auch seines Schreibwerkzeugs nicht auf die leichte Schulter. Für ihn mussten "der Zigarettenrauch in der Spitze und die Tinte im Füllhalter den gleichen leichten Zug" haben. Auch bei den Notizbüchern bevorzugte der Wahlpariser aus Berlin offensichtlich erlesene Exemplare. Aber auch damit hatte es seine besondere Bewandtnis, war weder Fetischismus noch Protzen mit Statussymbolen im Spiel. Benjamin erhielt die Luxuskladden als Geschenk des Freundes Alfred Cohen – der sie sich vollgeschrieben zurückerbat. Nur ein Beispiel für dieses Archiv, das von Benjamin selbst nach der Devise "Streuen und Bewahren" organisiert wurde, das in Korrespondenz mit dem jüdischen Gelehrten Gershom Scholem, mit Theodor Adorno oder auch Bertolt Brecht entstand:
"Ein Klischee, das er im Übrigen selbst auch bedient hat: Benjamin, der Grübler, der Melancholiker, der Isolierte, der Vereinsamte. Das rührt ein bisschen auch an Gefühle, an Solidarität oder Mitleid bei den Nachgeborenen. Benjamin war auch im Exil gut vernetzt."
Diese "Vernetzung" nun galt nicht nur Personen, sondern vor allem den Gedanken, den Texten Benjamins, der seine Autorenexistenz zum Beruf hatte machen müssen. Er propagierte ein Denken von den Rändern her, um ohne den schwerfälligen Tritt des Mainstreams behende zum Kern des jeweiligen Problems vorzustoßen. Mit farbigen Zeichen, den taktischen Symbolen auf Aufmarschplänen gleich, vermisst er das Gelände, zeichnet Diagramme, schreibt noch auf den schmalen Rand eines Zeitungsausschnitt lange Kommentare, streicht ganze Passagen und drängt im nächsten Absatz über den Rand hinaus. Das alles passt in kein gedrucktes Buch – und deshalb darf jede konventionelle "Gesamtausgabe" als Grabstein für dieses auf kleinstem Raum ausufernde Werk gelten:
"Es gibt ja Autoren, die die Spuren verwischen, die genau in diesen Bereich nicht gucken lassen wollen. Die lassen nur das fertige Manuskript oder das Buch übrig. Bei Benjamin, wenn er was gestrichen hat, ist es entweder in eine andere Fassung übertragen oder durch eine andere Fassung ersetzt. Aber für uns sind auch die verworfenen Stellen interessant: Sie zeigen, wie ein Gedanke sich gefügt hat, wie er entstanden ist."
Bilder, vor allem Fotografien, waren wichtige Werkzeuge in Benjamins Werkstatt. Das konnten Aufnahmen von russischem Kinderspielzeug sein, Postkarten aus dem italienischen San Gimignano oder schließlich Bildserien der Fotografen Germaine Krull und Sasha Stone, mit denen der Autor sich nicht nur die Pariser Passagen und das bürgerliche Interieur des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigte, sondern auch die für ihn so entscheidende Schwelle zwischen öffentlichem und privatem Pariser Stadtraum erkundete. Von "Denkbildern" haben Benjamin-Interpreten gesprochen – und dieses Phänomen macht die Akademie-Ausstellung auf wunderbare Weise anschaulich: Mit unter Holzdeckeln verborgenen Vitrinen, die im Innern Manuskripte und Fotos auf Glasplatten scheinbar schwebend präsentieren. Dann öffnet man eine Schublade, und schon schieben sich die Bilder auf zwei gläsernen Ebenen über- und ineinander.
"Dass man aufmachen muss, dass man die Deckel heben muss, dass man Schubladen herausziehen soll, das geht ein bisschen in die Richtung von Benjamins Ausstellungstheorie, die da sagt: Das wichtigste ist, dass man das schnöde ‚Mustern’ verlegt. Also, die Leute sollen selbst erkennen und dann selbst den Gedanken weitertreiben."
Und zwar in ganz unvorhersehbare Richtungen: "Knackmandeln" heißt die Abteilung, in der es um das Rebus geht, das Bilderrätsel, und auch um die kindlichen, aber ebenso aufschlussreichen wie vergnüglichen Sprachschöpfungen von Benjamins Sohn Stefan. Neben diesem spielerischen Element, dem scheinbar mühelosen Jonglieren mit Worten und Begriffen steht aber auch eine penibel geführte Zettelwirtschaft, die Walter Benjamin mit einem einflussreichen Schriftsteller der Nachkriegszeit verbindet:
"Es ist tatsächlich so, dass es zwischen Arno Schmidt und Walter Benjamin eine Verbindung gibt in dem Ethos des Schreibens: In der Spannung zwischen Genauigkeit, Akribie, Pedanterie – punktuell – und schöpferischem Chaos."
So erfüllt sich mit der konzentrierten und präzisen Auswahl dieser Ausstellung eine Hoffnung Benjamins, der auf ein "Fortleben" seines philosophischen Denkens im Archiv setzte – nicht etwa auf die Bildung einer Schule. Für Stunden möchte man sich verfangen im verführerisch leichten Gespinst der Korrespondenzen und Wahlverwandtschaften, im ganz und gar nicht virtuellen Netz, das Erdmut Wizisla am Pariser Platz ausgelegt hat – um am Ende neue Leser für Benjamins Bücher zu gewinnen:
"Es ist zu versprechen, dass man die Buchausgaben dann anders ansieht. Und dass man eine Ahnung von dem Offensein und auch dem Gewordensein dieses Werkes bekommt. Eine andere Ahnung, als es irgendeine Edition bisher vermitteln kann."
"Archivare sind diejenigen, die am dichtesten an den Werken dran sind, weil sie sie in ihrem Entstehen rekonstruieren können, weil sie die Handschrift lesen können, weil sie die Lebenszeugnisse ertasten, erfühlen können. Also, dieses sinnliche Moment der Archivarbeit, das führt doch dazu, dass ein unverfälschtes Bild, nicht von Ideologie, nicht von den großen Grabenkämpfen beeinflusstes Bild der Autoren entsteht."
Benjamin nahm die Wahl des Papiers und auch seines Schreibwerkzeugs nicht auf die leichte Schulter. Für ihn mussten "der Zigarettenrauch in der Spitze und die Tinte im Füllhalter den gleichen leichten Zug" haben. Auch bei den Notizbüchern bevorzugte der Wahlpariser aus Berlin offensichtlich erlesene Exemplare. Aber auch damit hatte es seine besondere Bewandtnis, war weder Fetischismus noch Protzen mit Statussymbolen im Spiel. Benjamin erhielt die Luxuskladden als Geschenk des Freundes Alfred Cohen – der sie sich vollgeschrieben zurückerbat. Nur ein Beispiel für dieses Archiv, das von Benjamin selbst nach der Devise "Streuen und Bewahren" organisiert wurde, das in Korrespondenz mit dem jüdischen Gelehrten Gershom Scholem, mit Theodor Adorno oder auch Bertolt Brecht entstand:
"Ein Klischee, das er im Übrigen selbst auch bedient hat: Benjamin, der Grübler, der Melancholiker, der Isolierte, der Vereinsamte. Das rührt ein bisschen auch an Gefühle, an Solidarität oder Mitleid bei den Nachgeborenen. Benjamin war auch im Exil gut vernetzt."
Diese "Vernetzung" nun galt nicht nur Personen, sondern vor allem den Gedanken, den Texten Benjamins, der seine Autorenexistenz zum Beruf hatte machen müssen. Er propagierte ein Denken von den Rändern her, um ohne den schwerfälligen Tritt des Mainstreams behende zum Kern des jeweiligen Problems vorzustoßen. Mit farbigen Zeichen, den taktischen Symbolen auf Aufmarschplänen gleich, vermisst er das Gelände, zeichnet Diagramme, schreibt noch auf den schmalen Rand eines Zeitungsausschnitt lange Kommentare, streicht ganze Passagen und drängt im nächsten Absatz über den Rand hinaus. Das alles passt in kein gedrucktes Buch – und deshalb darf jede konventionelle "Gesamtausgabe" als Grabstein für dieses auf kleinstem Raum ausufernde Werk gelten:
"Es gibt ja Autoren, die die Spuren verwischen, die genau in diesen Bereich nicht gucken lassen wollen. Die lassen nur das fertige Manuskript oder das Buch übrig. Bei Benjamin, wenn er was gestrichen hat, ist es entweder in eine andere Fassung übertragen oder durch eine andere Fassung ersetzt. Aber für uns sind auch die verworfenen Stellen interessant: Sie zeigen, wie ein Gedanke sich gefügt hat, wie er entstanden ist."
Bilder, vor allem Fotografien, waren wichtige Werkzeuge in Benjamins Werkstatt. Das konnten Aufnahmen von russischem Kinderspielzeug sein, Postkarten aus dem italienischen San Gimignano oder schließlich Bildserien der Fotografen Germaine Krull und Sasha Stone, mit denen der Autor sich nicht nur die Pariser Passagen und das bürgerliche Interieur des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigte, sondern auch die für ihn so entscheidende Schwelle zwischen öffentlichem und privatem Pariser Stadtraum erkundete. Von "Denkbildern" haben Benjamin-Interpreten gesprochen – und dieses Phänomen macht die Akademie-Ausstellung auf wunderbare Weise anschaulich: Mit unter Holzdeckeln verborgenen Vitrinen, die im Innern Manuskripte und Fotos auf Glasplatten scheinbar schwebend präsentieren. Dann öffnet man eine Schublade, und schon schieben sich die Bilder auf zwei gläsernen Ebenen über- und ineinander.
"Dass man aufmachen muss, dass man die Deckel heben muss, dass man Schubladen herausziehen soll, das geht ein bisschen in die Richtung von Benjamins Ausstellungstheorie, die da sagt: Das wichtigste ist, dass man das schnöde ‚Mustern’ verlegt. Also, die Leute sollen selbst erkennen und dann selbst den Gedanken weitertreiben."
Und zwar in ganz unvorhersehbare Richtungen: "Knackmandeln" heißt die Abteilung, in der es um das Rebus geht, das Bilderrätsel, und auch um die kindlichen, aber ebenso aufschlussreichen wie vergnüglichen Sprachschöpfungen von Benjamins Sohn Stefan. Neben diesem spielerischen Element, dem scheinbar mühelosen Jonglieren mit Worten und Begriffen steht aber auch eine penibel geführte Zettelwirtschaft, die Walter Benjamin mit einem einflussreichen Schriftsteller der Nachkriegszeit verbindet:
"Es ist tatsächlich so, dass es zwischen Arno Schmidt und Walter Benjamin eine Verbindung gibt in dem Ethos des Schreibens: In der Spannung zwischen Genauigkeit, Akribie, Pedanterie – punktuell – und schöpferischem Chaos."
So erfüllt sich mit der konzentrierten und präzisen Auswahl dieser Ausstellung eine Hoffnung Benjamins, der auf ein "Fortleben" seines philosophischen Denkens im Archiv setzte – nicht etwa auf die Bildung einer Schule. Für Stunden möchte man sich verfangen im verführerisch leichten Gespinst der Korrespondenzen und Wahlverwandtschaften, im ganz und gar nicht virtuellen Netz, das Erdmut Wizisla am Pariser Platz ausgelegt hat – um am Ende neue Leser für Benjamins Bücher zu gewinnen:
"Es ist zu versprechen, dass man die Buchausgaben dann anders ansieht. Und dass man eine Ahnung von dem Offensein und auch dem Gewordensein dieses Werkes bekommt. Eine andere Ahnung, als es irgendeine Edition bisher vermitteln kann."