Denkapparat mit Selbstheilungskräften
Das Gehirn ist kein fertig verdrahtetes Denkorgan. Es kann sich umorganisieren, umformen und manchmal kann es sogar wachsen. Der amerikanische Psychologe Norman Doidge schreibt in seinem Buch "Neustart im Kopf" sogar: Das Gehirn kann noch einmal von vorne anfangen.
Das Gehirn ist kein fertig verdrahteter Denkapparat, der im Laufe des Lebens immer weiter verschleisst. Es kann sich umorganisieren, umformen und manchmal kann es sogar wachsen. Der Psychologe Norman Doidge erklärt neueste Ergebnisse der Hirnforschung, er macht sie fühlbar und erlebar; und so gelingt es ihm, jedem Leser etwas über sein eigenens Gehirn beizubringen.
Eindrücklich beschreibt er einzelne persönliche Schicksale. Cheryl Schlitz zum Beispiel hat das Gefühl, dass sie fällt. Obwohl ihre Füße festen Grund haben, kippt sie ständig zur Seite oder rudert hilflos mit den Armen. Ihr Gleichgewichtssinn ist gestört; ihr Gehirn kann die Position ihres Körpers nicht mehr ermitteln. Ein normales Leben ist für Cheryl Schlitz nicht mehr möglich. Aus Sicht der Schulmedizin ist die Patientin ein hoffnungsloser Fall. Die zuständige Region in ihrem Gehirn funktioniert nicht mehr und lässt sich auch nicht wieder herstellen. Zumindsst galt das bis vor kurzem so.
Doch das Bild, das sich die Wissenschaft vom Gehirn macht, ist in Bewegung, nicht zuletzt dank der Forschungsergebnisse von Paul Bach-y-Rita. Voller Bewunderung beschreibt Norman Doidge diesen Pionier der Neuroplastizitätsforschung, der die Ansicht vertritt, dass sich das Gehirn bis ins hohe Alter umstrukturieren kann. Ganze Hirnregionen können umlernen, neue Aufgaben übernehmen und verloren gegangene Fähigkeiten zurück erwerben. Jahrzehnte lang machte diese Ansicht Bach-y-Rita zum Außenseiter. Doch inzwischen belegen immer mehr Ergebnisse der Grundlagenforschung die Plastizität, also die Umformbarkeit des Gehirns.
Für Cheryl Schlitz hat das konkrete Konsequenten. Paul Bach-y-Rita hat für sie ein Gerät entwickelt, das die Zunge gewissermaßen zum Gleichgewichtsorgan macht. Dazu trägt sie einen Helm, in dem eine technische Apparatur die Schwerkraft misst, und die Position ihres Kopfes bestimmt. Das Signal gibt der Helm in Form von elektrischen Signalen weiter an die Zunge. Das ist, als ob Sektperlen auf der Zunge prickeln, schreibt Norman Doidge, der das Gerät im Selbstversuch getestet hat. Für Cheryl Schlitz ist es ein Ersatz für ihren Gleichgewichtssinn. Ihr Gehirn lernt, die Stromsignale zu interpretieren und gibt dem Körper sein Gleichgewicht zurück. Die Patientin kann wieder stehen und gehen, ohne Angst, gleich umzufallen. Für Norman Doidge ein wunderbares Beispiel für die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns.
Geradezu euphorisch beschreibt er die Arbeit der Pioniere der Plasizitätsforschung. Ihren Weg von Außenseitern zu Stars der Wissenschaft. Immer wieder stellt er Patienten vor, teilweise in aussichtslosen Situationen. Norman Doidge beschreibt diese Menschen, ihre Hoffnung oder auch ihre Verzweiflung auf äußerst einfühlsame Weise. Sein Stil erinnert bisweilen an die liebe- und humorvolle Art des Neurologen und Schriftstellers Oliver Sacks (Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte). Anders als bei Sacks steht bei Doidge jedoch die Wissenschaft im Zentrum. Immer wieder beschreibt er, wie einzelne Beobachtungen von Ärzten oder Forschern unser Bild vom Gehirn verändert haben, und wie sie es immer weiter verändern. Die Richtung ist klar: Weg von der Gehirnmaschine, deren innere Kabel fest miteinander verdrahtet sind, und die mit dem Alter immer weiter verschleißt. Hin zu einem unerwartet vielseitigen, anpassungsfähigen Organ, das sich ständig ändert - und das immer wieder zu überraschenden Leistungen fähig ist, wenn man es nur ein wenig kitzelt.
Das Buch kommt ohne Bilder aus, und das ist durchaus berechtigt. Denn bunte, statische Bilder des Gehirns sind es, die bis heute unser Bild vom Gehirn prägen und oft zu falschen Schlüssen geführt haben. "Neustart im Kopf” ist ein wissenschaftlich fundiertes Buch für Laien. Achtzig Seiten Register und Anmerkungen bieten Fachleuten und besonders interessierten Lesern reichlich Möglichkeit, weiter zu recherchieren. Der Hauptext ist verständlich geschrieben und manchmal geradezu mitreißend formuliert. Was fehlt ist die Distanz zu den Wissenschaftlern und ihren zum Teil geradezu euphorischen Aussagen.
Rezensiert von Michael Lange
Norman Doidge: Neustart im Kopf. Wie sich unser Gehirn selbst repariert
Übersetzt von Jürgen Neubauer
Campus-Verlag, 2008
378 Seiten, 22 Euro
Eindrücklich beschreibt er einzelne persönliche Schicksale. Cheryl Schlitz zum Beispiel hat das Gefühl, dass sie fällt. Obwohl ihre Füße festen Grund haben, kippt sie ständig zur Seite oder rudert hilflos mit den Armen. Ihr Gleichgewichtssinn ist gestört; ihr Gehirn kann die Position ihres Körpers nicht mehr ermitteln. Ein normales Leben ist für Cheryl Schlitz nicht mehr möglich. Aus Sicht der Schulmedizin ist die Patientin ein hoffnungsloser Fall. Die zuständige Region in ihrem Gehirn funktioniert nicht mehr und lässt sich auch nicht wieder herstellen. Zumindsst galt das bis vor kurzem so.
Doch das Bild, das sich die Wissenschaft vom Gehirn macht, ist in Bewegung, nicht zuletzt dank der Forschungsergebnisse von Paul Bach-y-Rita. Voller Bewunderung beschreibt Norman Doidge diesen Pionier der Neuroplastizitätsforschung, der die Ansicht vertritt, dass sich das Gehirn bis ins hohe Alter umstrukturieren kann. Ganze Hirnregionen können umlernen, neue Aufgaben übernehmen und verloren gegangene Fähigkeiten zurück erwerben. Jahrzehnte lang machte diese Ansicht Bach-y-Rita zum Außenseiter. Doch inzwischen belegen immer mehr Ergebnisse der Grundlagenforschung die Plastizität, also die Umformbarkeit des Gehirns.
Für Cheryl Schlitz hat das konkrete Konsequenten. Paul Bach-y-Rita hat für sie ein Gerät entwickelt, das die Zunge gewissermaßen zum Gleichgewichtsorgan macht. Dazu trägt sie einen Helm, in dem eine technische Apparatur die Schwerkraft misst, und die Position ihres Kopfes bestimmt. Das Signal gibt der Helm in Form von elektrischen Signalen weiter an die Zunge. Das ist, als ob Sektperlen auf der Zunge prickeln, schreibt Norman Doidge, der das Gerät im Selbstversuch getestet hat. Für Cheryl Schlitz ist es ein Ersatz für ihren Gleichgewichtssinn. Ihr Gehirn lernt, die Stromsignale zu interpretieren und gibt dem Körper sein Gleichgewicht zurück. Die Patientin kann wieder stehen und gehen, ohne Angst, gleich umzufallen. Für Norman Doidge ein wunderbares Beispiel für die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns.
Geradezu euphorisch beschreibt er die Arbeit der Pioniere der Plasizitätsforschung. Ihren Weg von Außenseitern zu Stars der Wissenschaft. Immer wieder stellt er Patienten vor, teilweise in aussichtslosen Situationen. Norman Doidge beschreibt diese Menschen, ihre Hoffnung oder auch ihre Verzweiflung auf äußerst einfühlsame Weise. Sein Stil erinnert bisweilen an die liebe- und humorvolle Art des Neurologen und Schriftstellers Oliver Sacks (Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte). Anders als bei Sacks steht bei Doidge jedoch die Wissenschaft im Zentrum. Immer wieder beschreibt er, wie einzelne Beobachtungen von Ärzten oder Forschern unser Bild vom Gehirn verändert haben, und wie sie es immer weiter verändern. Die Richtung ist klar: Weg von der Gehirnmaschine, deren innere Kabel fest miteinander verdrahtet sind, und die mit dem Alter immer weiter verschleißt. Hin zu einem unerwartet vielseitigen, anpassungsfähigen Organ, das sich ständig ändert - und das immer wieder zu überraschenden Leistungen fähig ist, wenn man es nur ein wenig kitzelt.
Das Buch kommt ohne Bilder aus, und das ist durchaus berechtigt. Denn bunte, statische Bilder des Gehirns sind es, die bis heute unser Bild vom Gehirn prägen und oft zu falschen Schlüssen geführt haben. "Neustart im Kopf” ist ein wissenschaftlich fundiertes Buch für Laien. Achtzig Seiten Register und Anmerkungen bieten Fachleuten und besonders interessierten Lesern reichlich Möglichkeit, weiter zu recherchieren. Der Hauptext ist verständlich geschrieben und manchmal geradezu mitreißend formuliert. Was fehlt ist die Distanz zu den Wissenschaftlern und ihren zum Teil geradezu euphorischen Aussagen.
Rezensiert von Michael Lange
Norman Doidge: Neustart im Kopf. Wie sich unser Gehirn selbst repariert
Übersetzt von Jürgen Neubauer
Campus-Verlag, 2008
378 Seiten, 22 Euro