Denemarkova: Wir haben einen "ironischen Titel" gewählt

Radka Denemarkova im Gespräch mit Andreas Müller |
Die Schriftstellerin Radka Denemarkova rührt in ihrem Roman "Ein herrlicher Flecken Erde" an einem Tabu deutsch-tschechischer Geschichte, wonach es nicht sein kann, dass Tschechen auch Täter während des Zweiten Weltkrieges waren - mit Gita als der zentralen Figur einer "sehr übertriebenen Geschichte", wie Denemarkova erklärt.
Andreas Müller: Die 16-jährige Gita entkommt der Hölle des Konzentrationslagers nur, um 1945 im Sommer bei der Rückkehr in ihr böhmisches Heimatdorf erleben zu müssen, dass sie dort als deutsche Nazikollaborateurin denunziert wird. Ihr Elternhaus wird längst von anderen bewohnt, sie selbst wird wieder Opfer brutaler Gewalt, überlebt nur knapp und vermag schließlich zu fliehen.

60 Jahre später kehrt sie als alte Frau zurück, und wieder schlägt ihr Hass entgegen. "Ein herrlicher Flecken Erde" heißt der Roman von Radka Denemarkova, der an ein Tabu deutsch-tschechischer Geschichte rührt, wonach es nicht sein kann, dass Tschechen während des Zweiten Weltkrieges und danach nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren. Jetzt ist Radka Denemarkova bei uns zu Gast - schönen guten Tag!

Radka Denemarkova: Guten Tag!

Müller: Das Mädchen Gita ist eine Figur mit drastischem Schicksal, ein jüdisches Mädchen, hat das KZ überlebt, und dann sagen ihr die Tschechen, sie sei eine deutsche Jüdin und so mitschuldig. Da haben Sie sehr viel in diese Figur gepackt. Warum haben Sie eine so drastische Konstellation gewählt?

Denemarkova: Also das ist jetzt die Frage der literarischen Mittel. Ich wollte wirklich sehr, sehr übertriebene Geschichte schreiben, wo im Kern selbstverständlich die realistischen Sachen sind. Und ich wurde in Tschechien geboren, ich lebe dort, und ich habe mir gesagt, was bedeutet das, dieser Raum, dieser mitteleuropäische Raum, was da alles passiert war, und warum gibt es bis heute bestimmte Sachen noch Tabu. Wir haben kein Tabu, was die Gewalt betrifft, was Sex betrifft, aber immer wieder gibt es Tabu, was bestimmte Geschichtsperioden betrifft.

Am Anfang habe ich die ersten zwei Kapitel ganz sachlich beschrieben und so philosophieren mit vielen Thesen und so weiter, und dann habe ich mir gesagt, nein, ich probiere das anders, weil die Hauptfigur ist auch so emotionell und ich wollte das so schreiben, dass wir nicht wissen, warum auch sie so aggressiv ist gegen eigene Familie und so weiter, ob es die Folge von allen Geschehens, das sie erlebt hatte, ist oder ob es sich um genetische Ausrüstung handelt. Und wenn ich schon eine Geschichte in Böhmen schreibe, dann habe ich mir gesagt, das wird die Jüdin sein, das wird die Jüdin in deutschsprachiger Familie sein, und das ist das Kind. Und sie ist immer einige Schritte hinter der Geschichte, weil sie weiß nie, was da los ist. Und das ist sehr oft im Leben.

Müller: Der Originaltitel des Romans lautet, jetzt sinngemäß übersetzt: "Geld von Hitler". Was damit gemeint ist, kann man ungefähr erahnen, aber vielleicht können Sie uns diesen Titel noch mal kurz erklären.

Denemarkova: Ja, das war große Polemik mit dem Verlag, und ich habe das verstanden. Also "Geld von Hitler", das ist auch ein Kapitel, weil die Hauptheldin im Jahre 2001, sie will kein Geld auch von Deutschland nehmen für die Jahre, die sie im Konzentrationslager war. Und im Verlag haben sie mir gesagt, dass es eigentlich schade ist, dass der Hitler im Titel steht, weil die Deutschen haben das schon satt, wenn sie Hitler hören, und das verstehe ich, das habe ich wirklich verstanden. Und da haben wir einen anderen ironischen Titel gewählt.

Müller: Warum nun tun sich die Tschechen so schwer mit der Vergangenheitsbewältigung, warum ist das tatsächlich so ein großes Tabu?

Denemarkova: Ich weiß nicht, und deshalb schreibe ich darüber. Das interessiert mich und die Polemikenreaktionen sind sehr, sehr groß und tief, und ich kämpfe immer wieder, und ich weiß nicht warum, weil ich wirklich die fiktive Literatur schreibe. Ich schreibe keine Dokumente, ich frage nur, was da los war. Ich war zum Beispiel, als ich in der Schule war, mir wurde immer gesagt, es wurden die Deutschen vertrieben, die mit dem Hitler gekommen sind.

Ich habe in der Schule nie gehört, dass da die Deutschen 100 Jahre mit den Tschechen gelebt haben. Da sagt man immer, das sind die Sachen, die niemanden mehr interessieren – aber mich interessiert das. Und das ist ... Ich muss sagen, das ist auch schade, dass es zu viel politisiert ist, aber bei den beiden Seiten. Und ich habe wirklich menschliches Schicksal geschrieben, weil am Anfang habe ich ein Buch über Pol Pot, über Kambodscha gelesen, und Pol Pot hat am Anfang auch eine große Gruppe ermordet, die Intellektuellen. Also diese Sachen, die passieren überall in der Welt, und ich frage nun auch, was ist da los mit den Menschen, wenn sie schon die Gelegenheit haben, und es genügt so wenig, und die Minderwertigkeitskomplexe haben auf einmal, die immer wieder die Opfer finden – suchen und finden, leider.

Müller: Im Mai lief im tschechischen Fernsehen die Dokumentation "Töten auf Tschechisch" über einen Massenmord an Deutschen in Prag – zwei Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war das. Es hieß, viele Tschechen hätten von nichts gewusst. Glauben Sie das?

Denemarkova: Nein! Nein, zum Beispiel über diesen Film – so viele Jahre hat das gedauert, dass wir das sehen konnten, und das ist wirklich etwas Brutales und so weiter. Man muss aber betonen, selbstverständlich wir wissen, wer mit dem Zweiten Weltkrieg angefangen hat und (…), aber es ist auch wichtig zu sagen, wir sind nicht nur Opfer, wir Tschechen, Polen und andere. Da waren auch so schlimme Sachen und da muss man benennen. Wenn wir die Schuld benennen, das geht nicht darum, um die Rache oder so was, aber man muss das benennen, sonst bleibt das wie unter dem Teppich oder wie die Leichen im Keller.

Müller: Sie haben ja auch mal geschrieben, die tschechische Gesellschaft ist krank – und nicht nur das –, sie lehnt es ab, sich behandeln zu lassen. Seit Jahrzehnten leben wir mit gefälschter Geschichte, und solange diese Wirrnis nicht aufgelöst wird, sind wir nicht wirklich frei.

Denemarkova: Ja, und das ist die Aufgabe der Kunst und zum Beispiel der Literatur. Es geht mir schon auf die Nerven, das ist auch in der tschechischen Literatur und Film vor allem, das zeigt man immer wieder, wie die Tschechen Opfer waren und wie wir, wie sagt man da, saubere Hände haben – das stimmt nicht.

Und es gibt mehrere Sachen, das betrifft nicht nur die Deutschen, das betrifft auch 50er-Jahre, das betrifft auch das Jahr 1989. Es gibt so viele Themen bei uns, die muss man aber wirklich literarisch zum Beispiel öffnen mit den fiktiven Sachen. Und ich möchte immer wieder diese Leichen vom Keller so nehmen und mit den konkreten menschlichen Schicksalen, aber mit literarischen Mitteln durchleuchten. Und das tut weh.

Müller: Also im Prinzip heißt das ja auch, es ist enorm wichtig, dass sich die Tschechen nach so vielen Jahren der Vergangenheit auch stellen, auch neu stellen vielleicht auch, aber Sie sagen dann: Ich bin nicht der Arzt, ich bin der Schmerz. Und da kann man natürlich gleich fragen: Braucht die Gesellschaft, die tschechische, einen Arzt, und wer kann das sein?

Denemarkova: Das müssen wir alle sein. Ich meinte immer, dass die Hoffnung bei der jungen Generation ist, aber ich muss sagen, ich glaube daran nicht mehr. Das ist immer so, weil die Kinder und junge Generation immer wieder von den Eltern, von der Gesellschaft erzogen wird, und es werden immer wieder diese Vorurteile und Klischees weitergegeben werden.

Und nur die stärksten Persönlichkeiten sind dann fähig, da die neuen Fragen zu stellen, dass das Leben auch anders aussehen kann und dass die Sachen auch verschieden sein konnten und so weiter. Also das ist dann Frage, wer ist der Arzt, aber die Grenzen sind immer von den Menschen zu den Menschen. Und wenn ich das so zum Beispiel nehme, dass wir da wirklich nur für einmal sind. Das wissen wir nicht, aber ... Und das ist ganz wichtig, dass wir das ernst nehmen, auch das Leben – und das spüre ich zum Beispiel in Tschechien gar nicht. Es geht um Leben der Menschen, auch wenn die Menschen zum Beispiel überlebt haben, dass sie konnten einige Jahre nicht das eigene Leben leben, das ist auch schrecklich.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit der Schriftstellerin Radka Denemarkova über ihr Buch "Ein herrlicher Flecken Erde" und die Wirrnis der deutsch-tschechischen Geschichte. Ihr Buch erschien 2006 in Tschechien – wie wurde es aufgenommen? Es gab einerseits ja den wichtigsten tschechischen Literaturpreis für dieses Buch, aber ich kann mir vorstellen, dass es da auch noch ganz andere Reaktionen gab.

Denemarkova: Das hat den Preis erhalten, und auch in Polen wurde es nominiert, aber immer wieder es wurde betont, dass es literarisch also hoch geschätzt ist, aber dass ich andere Themen also in der Zukunft nehmen sollte.

Müller: Das war ein guter Ratschlag sozusagen?

Denemarkova: Das war guter Ratschlag, auch vor den Rezensenten und so weiter. Und das waren dann verschiedene Gruppen. Also es war Skinheadsgruppe, die haben mich bedroht, ich musste damals E-Mail-Adresse ändern, da hatte der Verlag sehr viele Briefe erhalten von den Menschen, die da geschrieben haben: Ja, das ist die Geschichte von meiner Tante und von meiner Mutter. Und da meinte ich, das ist Wahnsinn, weil ich habe das wirklich übertrieben, und das ist grotesk geschrieben.

Und das war da ein Advokat, der 89 Jahre alt war, und der wollte mit mir sprechen, dass es bestimmt auch die Geschichte von seiner Mutter ist und so weiter, und so weiter. Ich musste ihm sagen, nein, das ist wirklich Fantasie, das ist Essenz der Zeit. Und dann waren die Reaktionen von dem auch zum Beispiel in einer Zeitung, die haben geschrieben, dass ich bestimmt aus einer Nazifamilie stamme, weil ich da für die Deutschen kämpfe, und dass es umgekehrt sein soll, ich sollte stolz sein, dass wir gegen Nazis gekämpft haben und so weiter, und so weiter. Zum Beispiel auch aus der deutschen Seite, da waren die wieder froh, dass ich da dieses Schicksal von Vertriebenen und so weiter erwähnt habe. Aber ich bin für keine Gruppe da ...

Müller: Es ist unparteiisch.

Denemarkova: Das ist wirklich.

Müller: Hatten Sie mit so heftigen Reaktionen gerechnet oder hat Sie das überrascht?

Denemarkova: Gar nicht. Ich mache das mit jedem von meinen Büchern. Wenn ich da etwas spüre, was mir persönlich weh tut, dann schreibe ich, und ich möchte die Fragen, die ich im Kopf habe, da suche ich die Antworten oder ich probiere das zu verarbeiten. Und auf einmal lebt das Buch sein eigenes Leben.

Müller: Die letzten Worte in Ihrem Roman lauten: "Sicher, Worte können viel Übles anrichten, verhindern können sie nichts." Können Sie etwas erreichen, wenn Sie schon nichts verhindern können?

Denemarkova: Okay, wenn ich das so aus Metaphern nehme, was ich mache, das ich schreibe, wenn ich nicht daran glaube, dass ich etwas mit den Wörtern auch schaffen kann, dann mache ich das nicht. Also ich habe – die kleine Hoffnung habe ich doch.

Müller: Radka Denemarkova, vielen Dank für dieses Gespräch! Der Roman "Ein herrlicher Flecken Erde" – ich will das noch erwähnen – ist ja bereits im vergangenen Jahr erschienen, und zwar bei DVA.