Esther Schulz: "Ich sehe den Himmel. Wie die Diagnose 'Krebs' den Blick auf das Leben und das Sterben klärte."
Herausgegeben von Benjamin Schulz und Günther Schulz
Werdewelt Verlags- und Medienhaus, Mittenaar-Bicken 2019
220 Seiten, 17,90 Euro
Wenn Patienten das Leben loslassen
08:43 Minuten
Manche Menschen, etwa mit schweren Herz- oder Krebsleiden, entscheiden sich bewusst gegen Therapien, die ihr Leben verlängern könnten. Die meisten fürchten ein Leben mit vielen Einschränkungen. Manchmal kommen religiöse Motive hinzu.
Am 29. Mai 2018 erhält Esther Schulz nach einer Operation an der Leiste einen völlig unerwarteten Befund: Statt des vermuteten Leistenbruchs hat sie eine aggressive Form von Lymphdrüsenkrebs. Esther Schulz ist zu diesem Zeitpunkt knapp 60 Jahre alt und steht als Gemeindediakonin in Hagen und Großmutter von sechs Enkeln mitten im Leben. Die Entscheidung über den weiteren Behandlungsverlauf fällt sie unmittelbar nach der OP, berichtet ihr Sohn:
"Meine Mutter hat innerhalb von zwei, drei Tagen entschieden: Ich mache keine Chemo. Weil sie gesagt hat: Ich habe so viele Menschen erlebt, die ein Jahr und länger durch die Hölle gegangen sind und hinterher doch gestorben sind."
Entscheidung gegen die Chemotherapie
Ben Schulz hat seine Mutter im letzten Jahr ihres Lebens intensiv begleitet – und sie dabei unterstützt, die Erfahrungen dieses letzten Lebensabschnitts zu dokumentieren. In dem Buch "Ich sehe den Himmel" berichtet Esther Schulz, wie, so der Untertitel, "die Diagnose 'Krebs' den Blick auf das Leben und Sterben klärte."
Zunächst hatte Esther Schulz sich vor allem aus Angst vor anstehenden Schmerzen und erheblichen Einschränkungen gegen die Chemotherapie entschieden. Doch der Entschluss bekam für die Diakonin und ihre Familie zunehmend auch eine spirituelle Dimension.
Das Buch beschreibt ein bewusstes Jahr des Abschieds, in dem Esther Schulz auch eine neue Gottesbeziehung entwickelt. Sie schreibt:
"Du fragtest, warum dies das beste Jahr meines Lebens ist? Eigentlich kann ich das mit dem Wort Jesu erklären: 'Maria hat den besseren Teil'. Ich bin mein Leben lang Marta gewesen. Schon als Kind hatte ich immer Verantwortung zu tragen und das hat sich durch mein ganzes Leben gezogen. Aber seit der Diagnose war ich plötzlich frei von allen Verantwortungen, ich habe so viel Zeit wie noch nie, ich darf einfach ich sein."
Die Sterbende tröstet ihre Kinder
In der Geschichte von Marta und Maria von Bethanien, die im 10. Kapitel des Lukasevangeliums erzählt wird, würdigt Jesus die Haltung von Maria. Im Gegensatz zu ihrer stets arbeitenden Schwester Marta sitzt sie einfach zu Jesu Füßen und hört ihm zu.
Seine Mutter sei über ihr Schicksal auch sehr traurig gewesen, sagt Ben Schulz, aber bis zuletzt konnte sie mit ihrem Glauben und ihrer Spiritualität die Menschen in ihrer Familie tief berühren:
"Meine Mutter hat immer alle die getröstet, die kamen, und nicht anders herum. Das hat uns – mich – auch manchmal überfordert, weil sie gedanklich schon viel, viel weiter war als wir alle. Und mit einer der schwersten Momente war dann auch, irgendwann einmal von ihr zu hören, dass die Freude auf das, was kommt, höher ist als der Schmerz, uns zu verlassen. Das war schon krass."
Dass Menschen sich bei der Entscheidung gegen lebensverlängernde Maßnahmen am Ende ihres Lebens auch von religiösen oder spirituellen Motiven leiten lassen, erlebe er in seiner Praxis so gut wie nie, sagt der Palliativmediziner Thomas Schindler.
Gut leben, so lange es noch möglich ist
"Ich hätte auch gedacht, dass diese Erwägungen häufiger eine Rolle spielen. Aber in der Realität sind das Einzelfälle", sagt Schindler. In 25 Jahren als Arzt hat er mehrere Tausend Patientinnen und Patienten in den Tod begleitet, allein dieses Jahr waren es schon über hundert:
"Wir erleben vor allem Menschen, die am Leben hängen, die trotz dieser unheilbaren Erkrankung so lange wie möglich leben wollen, möglichst gut natürlich leben wollen, und dabei wollen wir sie auch unterstützen. Wir erleben es allerdings selten, dass Menschen auf jegliche Therapie verzichten. Sie entscheiden sich gegen eine aktive Lebensverlängerung in der Regel, weil sie Angst haben, dass ihre Lebensqualität unter der Therapie sehr leiden würde."
Der Arzt zählt Beispiele von Menschen aus seiner Praxis auf, die sich zwar für Schmerzlinderung aber gegen lebensverlängernde Maßnahmen entschieden haben: Da ist der ältere Herr, dessen Nieren dialysiert werden und der sich so geschwächt fühlt, dass er in seinem kognitiv und körperlich eingeschränkten Zustand nicht mehr dreimal in der Woche in ein Dialyse-Zentrum gebracht werden will.
Da ist die 60-jährige Frau, die an der Nervenkrankheit ALS leidet und die in ihrer Bewegungsfähigkeit immer weiter eingeschränkt wird. Aus Angst vor Hinfälligkeit und kompletter Abhängigkeit entscheidet sie sich für das sogenannte "Sterbefasten" – sie hört auf zu essen und zu trinken.
Religion kann Sterbenden Halt bieten
"Wieder ein anderer, ein Priester in diesem Fall, Anfang 80 hat sich auch dafür entschieden, dass sämtliche Medikamente, die sein Herz unterstützen sollten, abgesetzt werden, weil er die Jahre davor als sehr, sehr belastend erlebt hat, und weil die körperlichen Einschränkungen immer größer geworden sind und er sterben wollte", erzählt Thomas Schindler.
Wer eine spirituelle oder religiöse Weltanschauung mitbringe, dem gelinge es häufig besser, die Sterbesituation anzunehmen, beobachtet Katrin Klatt. Sie leitet die Pflege im anthroposophischen Hospiz Christophorus am Gemeinschaftsklinikum Havelhöhe in Berlin-Kladow.
"Da gibt es auch manchmal so ganz einzelne, sehr weise, reife Menschen, die ihre Spiritualität in sich tragen – seien das nun Anthroposophen, das können auch evangelisch getragene Menschen sein, die ihre Einstellung so stark haben, dass es ihnen hilft, auf Medikamente zu verzichten."
Gebet und Meditation lindern Leid
Katrin Klatt erinnert sich an einen buddhistischen Mönch, den sie auf seinem letzten Weg begleitet hat:
"Der hat einfach immer nur gebadet. Das war durchgetragen durch das Bad und durch die Einstellung. Solche Menschen brauchen auch weniger Schmerzmittel. Und meistens lehnen sie dann auch Medikamente ab, weil – für sie ist die Spiritualität das Medikament, das trägt sie geistig und körperlich."
Ihre Kollegin, die Krankenschwester Birgit Kuban, ergänzt: "Es gibt aber auch Menschen, die haben überhaupt nicht mehr gelebt mit einem Glauben, und im letzten Moment fragen sie uns, ob wir mit ihnen beten können, die dann da einen Halt drin finden."
Und Katrin Klatt sagt: "Aber das sind meistens nicht die, die auf Medikamente verzichten, sondern die suchen alles und nehmen dann auch noch das Gebet und die Meditation, um auch den Halt zu nehmen. Aber das ist dann auch eine schöne Erfahrung."
Je nach Sozialisation und kulturellem Umfeld spielen religiöse Erwägungen, Hoffnungen und Tröstungen am Lebensende sicher eine unterschiedlich große Bedeutung: Einen direkten Einfluss auf die Entscheidung über medizinische Therapie scheinen sie allerdings kaum zu haben. Und so sehr eingeschränkt Menschen am Ende ihres Lebens häufig doch sein mögen – wirklich loszulassen falle vielen schwer, sagt der evangelische Seelsorger Carsten Unbehaun:
"Es ist so, als ob jemand mäandernd immer wieder in die Nähe einer Tür geht und wieder weg. Kaum jemand geht stracks darüber. Ich glaube, Sterben ist ein aktiver Prozess – dieses Sich-Übergeben – über diese Schwelle gehen."
Ein Gefühl des Angekommenseins
Carsten Unbehaun begleitet Sterbende im Hospiz Berlin-Köpenick auf ihrem letzten Weg. Er hat Sterbende beobachtet, die ihre letzten Atemzüge noch genossen haben:
"Ich erlebe, dass die meisten Menschen am Ende, ganz am Ende, in Frieden sterben. Wir sehen nur das Gesicht und die Körperhaltung von jemand, der gerade beim Gehen ist oder gegangen ist. Also, es gibt am Ende so etwas wie Ankommen: Es ist gut."
Esther Schulz, die sich gegen eine Chemotherapie zur Behandlung ihrer Krebserkrankung entschieden hatte, starb im Juli 2019, zu Hause, während ihre Familie mit ihr den 23. Psalm betete: "Der Herr ist mein Hirte."