Den Hang zur Verklärung brechen

Von Sigrid Brinkmann |
Drei Jahrzehnte lehrte sie Geschichte an Pariser Universitäten, aber als Marie-Noëlle Thibault ihren ersten Krimi veröffentlichte, wählte sie ein Pseudonym. Von Dominique Manotti sind bislang sechs Romane auf Deutsch erschienen.
Das Viertel La Villette liegt im Nordosten von Paris. Mittendrin ein 700 Meter langes Hafenbecken, einst Drehkreuz der Pariser Binnenschifffahrt. Aus ihrer Wohnung im 6. Stock schaut Dominique Manotti direkt auf das Bassin de la Villette mit seinen kleinen Booten und ehemaligen Lastkähnen:

"”Ich liebe dieses Viertel wirklich. Wenn sich nachts das Wasser im Becken spiegelt, das ist einfach wunderschön. Man sieht da hinten eine Rotunde aus dem 18. Jahrhundert und gleich dahinter eine Hochbahntrasse der Metro. Dieses Nebeneinander finde ich großartig.""

Schon als Kind interessierte sich Dominique Manotti für Zeugnisse vergangener Kulturen. Sie wollte unbedingt die Keilschrift der Kreter entziffern. Dass dies bis heute weder ihr noch sonst jemandem gelungen ist, erheitert die kleine Frau:

"Je ne l’ai pas fait et je vous signale que personne ne l’a fait." (Lachen)"

Statt Archäologie studierte Manotti Geschichte:

"”Ich bin Latinistin und auf Rom gepolt. Die römische Kultur hat meine Vorstellungswelt über Jahre hinweg völlig beherrscht, bis ich dann politisch erwachte und begann, mich für die Gegenwartsgeschichte zu interessieren."

Das politische Erwachen begann 1962, als Algerien nach acht Jahren Krieg seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte. Zigtausend französische Soldaten kehrten traumatisiert in ihre Dörfer und Städte zurück, aber im Land herrschte bleiernes Schweigen:

"”Das Geschichtswissen ist in Frankreich eher unterentwickelt. Es gib hier einen Hang zur nationalen Verklärung, den ich natürlich zu brechen versuche (Lachen). Sarkozy trieb es doch sehr weit, als er eine direkte Linie vom gallischen Heerführer Vercingetorix zum französischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs knüpfen wollte. Ja, wir Franzosen neigen dazu, unsere Geschichte zu romantisieren.""

Natürlich gibt es Vercingetorix auch als Filmhelden. Dessen pathetische, antirömische Reden bringen Dominique Manotti zum Lachen. Sie ist jetzt 70. Über drei Jahrzehnte hat sie Geschichte gelehrt. Sieben Jahre lang stand sie außerdem für die Pariser Sektion an der Spitze des größten französischen Gewerkschaftsbundes. 1983 gab sie ihren Posten auf. Zehn Jahre später erschien ihr erster Kriminalroman: "Hartes Pflaster".

"”Ich war damals völlig verzweifelt, und in dieser Phase gab mir die Literatur Kraft. Ich fing an, über den Kampf der illegal beschäftigten Textilarbeiter im Sentier-Viertel zu schreiben. Als Gewerkschafterin hatte ich die Streiks 1980 aktiv unterstützt. Der Kampf dauerte sechs Monate. Es ging um Arbeitsverträge für 11.000 Leute! Das war ein ganzer Stadtteil! Mit der konservativen Regierung hatten wir schließlich eine Regelung ausgehandelt. Kurz darauf wurde der Sozialist François Mitterrand Präsident und dessen Bürokraten haben alle Anstrengungen zunichte gemacht. Ich habe dann mit der Gewerkschaftsarbeit aufgehört.""

Es war eine Phase, in der Dominique Manotti viel Musik hörte. Auch heute geht sie noch oft in Clubs. Jazz inspiriert sie beim Nachdenken über mögliche Handlungsverläufe in ihren Romanen. Sie liebt das Saxophonspiel von John Coltrane und Archie Shepp.

Dominique Manotti spricht, wie sie schreibt: Schnell umreißt sie einen Konflikt, sie spöttelt subtil, ihr Stil hat etwas Frontales und doch Raffiniertes. Dass sie Fakten sauber recherchiert, eine gute Menschenkenntnis besitzt und schockierende Wahrheiten nicht aus Lust an der Provokation ausbreitet, spürt man bei der Lektüre jedes ihrer Bücher.

Mit "Das schwarze Korps" legt sie bewusst den Finger auf eine verborgene Wunde, denn von den Machenschaften einer französischen Gestapo, die 1944 ‒ in den Wochen vor der Befreiung Frankreichs ‒ Geschäfte mit der SS abwickelte, will die Öffentlichkeit in Frankreich nichts wissen. Es verwundert sie nicht, dass ihre Romane zuhause eine geringere Auflage haben als im Ausland. Die Geschichte, sagt sie, sei immer eine schwere Last und schaut dabei zum ersten Mal an diesem hellen Pariser Vormittag resigniert zu Boden. Dann lächelt sie wieder und setzt entschieden nach:

"Für einige Krimiautoren zählt, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist. Mit der Autofiktion haben wir nichts am Hut. Wir beschreiben soziale Beziehungen und eine Gesellschaft im Wandel. Dabei reibt man sich halt immerzu an der Geschichte."


Dominique Manottis Romane erscheinen im Argument Verlag und im Verlag Assoziation A.
Am 17. April liest die Autorin im
European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin-Kreuzberg. Am 18. April tritt sie in der Hamburger Buchhandlung Osterstraße auf.
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