Den Fluss beobachten, bevor er stirbt

Von Gerhard Richter · 17.09.2012
Seit 30 Jahren kämpft Veer Badra Mishra gegen die Verschmutzung des heiligen Flusses der Inder. Er lebt am Ganges, ist hochrangiger Hindu-Priester und Wissenschaftler: Eine seltene Doppelrolle, die den Umweltpionier täglich herausfordert.
"Wenn ich sage, dass der Ganges verschmutzt ist, verseucht, dreckig, dann steht in weniger als einer Minute jemand auf und sagt: Bruder, das ist respektlos. Sag sowas nicht über unsere Mutter. Das verletzt uns."

Glaube und Wissen, zwischen diesen beiden Welten verbringt Veer Badra Mishra sein Leben. Sein Geist bewegt sich in spirituellen Höhen, seine Füße stehen im Labor, in dem er die Zahl der Koli-Bakterien im Ganges messen lässt. Jeden Freitag rudert ein Mitarbeiter seiner Stiftung, der Sankat Mochan Foundation, auf den Fluss hinaus und bringt Wasser-Proben. Die Ergebnisse sind ernüchternd:

"Ich kann sagen, dass die Verschmutzung jedes Jahr langsam zunimmt. Wir beobachten den Fluss, bevor er abstirbt. Das ist so traurig, aber genau das macht unser Land."

Vor 30 Jahren war Veer Badra Mishra der erste, der auf die Verschmutzung hingewiesen hat. Und noch immer ist er einer der wenigen, der diese Gratwanderung wagt: Das Problem zu benennen, ohne religiöse Gefühle zu verletzen:

"Gott hat mir vermutlich diese Verantwortung übertragen. Dass ich praktizierender Hindu bin und dass ich verstehe, was mit dem Fluss passiert, und der modernen Welt das erklären kann."

Veer Badra Mishra ist eingehüllt in hellgraue weiche Tücher, dass füllige weiße Haar hat er nach hinten gekämmt. Der hochgewachsene Priester sitzt aufrecht auf einer traditionellen indischen Matte, hinter sich an der Wand ein Flachbildschirm. Durch das offene Fenster hört man vom Ufer herauf die Gesänge der Pilger, die bis zum Bauchnabel in Mutter Ganga stehen und beten. So wie es der Nationaldichter Tulsidas beschrieben hat:

"Ganga ist die Spenderin von Pukti und Mukti. Pukti ist das irdische Glück und Mukti ist Erlösung."

Veer Badra Mishra wohnt im dem Haus, in dem der Dichter Tulsidas im 15 . Jahrhundert gelebt und geschrieben hat. Seit mehr als 400 Jahren bewahrt die Familie Badra Mishra dessen religiöses und literarisches Erbe. Sämtliche Söhne wurden als Priester erzogen:

"Sie sollen singen lernen, sie sollen die religiösen Riten lernen, Sanskrit und Ringkampf."

All das lernt Veer Badra Mishra ebenfalls und wird Tempelpriester, wie seine Vorväter. Aber zusätzlich besucht er die Universität und studiert Naturwissenschaften: Chemie, Physik und Mathematik. Als allererster aus seiner Familie ergreift er einen weltlichen Beruf und wird Professor für Wasserbau. Es gibt genug zu tun, Indiens Industrie entwickelt sich.

Bei seinem täglichen Bad im heiligen Fluss stößt der gläubige Ingenieur auf ein Phänomen:

"Ich habe tausende kleine Fische gesehen. Tote Fische, die auf dem Fluss trieben. Genau hier, unterhalb meines Hauses. Wir haben sofort gedacht, dass etwas getan werden muss."

Veer Badra Mishra begeht das Sakrileg und nimmt Wasserproben. Die Werte, die er misst, sind erschreckend. Es wimmelt von Koli-Bakterien. Die Pilger, die am Ufer ihr heiliges Bad nehmen, sind weit weniger gefährlich als die Abwässer der Stadt und der Fabriken. Mishra macht Pläne für eine ökologische Kläranlage und setzt seinen Ruf als Priester aufs Spiel. Es dauert Jahrzehnte, bis die Regierung ein Klärwerk baut. Nach eigenen Plänen und mit elektrischen Pumpen. Aber:

"Sie hatten keinen Strom und konnten die Pumpen nicht betreiben. Fünf Monate Stillstand. Es hat nicht funktioniert."

Mittlerweile gibt es einen nationalen Ganga Action Plan, die Weltbank gibt dafür Milliardenkredite, aber die Umsetzung scheitert oft an Bürokratie, Korruption und fehlendem Umweltbewusstsein. Und am Glauben, der Ganges sei heilig, brauche also keine Hilfe.

Immer noch badet der pensionierte Ingenieur täglich im Gangeswasser. Er lässt sich eine Wanne voll ins Haus heraufbringen, seine Knie sind zu schwach für die steilen Ufertreppen. Seine Lebensaufgabe aber, die Reinigung des Ganges, verfolgt er weiter:

"Heute fühle ich, dass es Gottes Werk war. Und ich fühle, dass Wissenschaft und Technologie allein nicht für den Fluss sorgen können. Und Verehrung und Respekt und Liebe machen den Fluss auch nicht sauber. Diese beiden Sichtweisen sind von Gott gegeben. Es sind zwei parallele Linien, genau wie die beiden parallelen Ufer eines Flusses. Und beide müssen bearbeitet werden."