Den einzelnen Menschen sehen

Von Gerrit Stratmann |
Seit fast 18 Jahren leitet Ulrike Kegler die Montessori Oberschule in Potsdam. Gegen viele Widerstände hat sie einen Ort geschaffen, an dem Kinder in altersgemischten Gruppen selbstbestimmt lernen. Immer unter dem Motto Maria Montessoris: "Hilf mir, es selbst zu tun."
"Also ich bin wirklich mit Leidenschaft Lehrerin. Und Pädagogin. Ich find' Pädagogik wunderbar."

"Meine Grundthese ist ja die, dass es die kleinen Dinge sind, die das große Ganze verändern."

"Die größte Desillusionierung meines Lebens war wirklich, als ich endlich in einem Lehrerzimmer war."

Ihre ersten Lehrerfahrungen sammelte Ulrike Kegler an Grundschulen in Oldenburg und Berlin. Dort merkte die junge Pädagogin bald, dass das Arbeitsklima nicht ihren Vorstellungen von Zusammenarbeit unter Kollegen entsprach.

"Man hat sich zum Beispiel privat eingeladen und so, aber die haben nicht zusammengearbeitet. Gar nicht. Es gab sechs Lehrerkonferenzen vielleicht im Jahr, das war's. Und da wurde dann noch gestrickt dabei und Hefte korrigiert. Und das fand ich ... das fand ich so abstoßend."

Seit 1995 ist Ulrike Kegler mittlerweile Rektorin der Montessori Oberschule in Potsdam. Hier, an der ehemaligen Karl Liebknecht Schule, wollte sie es anders machen. Sie träumte von einer Schule mit Kollegen, die weniger klagten, anders unterrichten wollten und mehr das Wohl des einzelnen Kindes, als das Vorankommen einer ganzen Klasse im Auge hatten. Aber ein solches Konzept stieß nicht bei allen Lehrern auf offene Ohren. Für viele war es schlichtweg ungeeignet.

"Wenn man das sagt, dass natürlich nicht jeder Lehrer an jede Schule passt, dann sagen alle: Ja, das stimmt. Nur weil der irgendwann mal von irgendeiner Behörde irgendwo hingeschickt wurde, heißt das noch lange nicht, dass das der richtige Ort für ihn oder für sie ist. Und da muss es Möglichkeiten geben, den richtigen Ort zu finden."

Den richtigen Ort finden. Nicht nach Schema F arbeiten, sondern Wahlfreiheiten schaffen. Auf individuelle Fähigkeiten eingehen. Die richtige Art der Kommunikation mit Schülern lernen. – Solchen Ansprüchen, kritisiert die 55-jährige Schulleiterin, wird die universitäre Ausbildung zum Lehrer nicht gerecht.

"Das, was die normale Schule bis zur 10. Jahrgangsstufe ausmacht, das lernt man nicht an der Universität. Und das ist höchst unprofessionell. Dass wir es uns in Deutschland erlauben, für einen der verantwortungsvollsten Berufe in wesentlichen Bereichen nicht auszubilden."

Geboren wird Ulrike Kegler als Tochter einer Kindergärtnerin im Sauerland. Nach der Trennung der Eltern wächst sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder ohne Vater in Berlin auf. Ihre Grundschulzeit hat sie als autoritär in Erinnerung, sich selbst als sehr angepasst und brav. Später, auf dem Gymnasium, tut sie sich schwer.

"Ich hab das nicht gekonnt, wie das von mir verlangt wurde. Ich hab ganz, ganz hart kämpfen müssen. Aber ich hab sehr hart gekämpft. Ich wollte unbedingt durch diese Schule kommen. Ich wusste eigentlich gar nicht warum, ehrlich gesagt, es hatte nie jemand studiert in unserer Familie, aber ich wollte das."

Erst nach ihrem Kunst- und Politikstudium lernt sie zum ersten Mal die Pädagogik von Maria Montessori kennen. Die italienische Ärztin beschrieb schon Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Ansichten einer kindgerechten Schulerziehung. Dazu gehört:

"Dass die Kinder sich bewegen können, dass sie sich nach ihrem individuellen Bauplan entwickeln können und dass sie nicht in die Abhängigkeit von Erwachsenen gebracht werden, zum Beispiel durch permanentes Loben und Tadeln."

In dem schmucklosen dreistöckigen Schulgebäude in Potsdam stehen die meisten Türen offen. Werkstätten, Nähstube, Lese- oder Spielzimmer voller Entdeckungsangebote laden zum selbstbestimmten Lernen ein. Der Schulhof ähnelt mit seinen vielen Klettergeräten einem hügeligen Erlebnisspielplatz. Ulrike Kegler hat mit ihrem Kollegium viel Zeit darauf verwendet, allen Kindern von der 1. bis zur 10. Klasse eine anregende Umgebung zu bieten. Selber zu unterrichten, dazu kommt sie allerdings kaum noch.

"Die Hauptaufgabe eines Schulleiters ist es nicht, zu unterrichten. Sondern die Hauptaufgabe eines Schulleiters, einer Schulleiterin ist, ein Kollegium zu führen und für Visionen zu sorgen und Experten zu akquirieren und Geld zu akquirieren und das Kollegium immer wieder zu greifen und mitzunehmen, das ist die Hauptaufgabe."

Ulrike Kegler glüht für das, was sie tut. Ihre Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Schon vor der Verleihung des Deutschen Schulpreises 2007 spricht sich die Erfolgsgeschichte ihrer Oberschule herum und zieht Neugierige an.

"Es sind hier jedes Jahr vier-, fünfhundert Besucher aus ganz Deutschland und andern Ländern Europas, um diese Schule anzugucken, und immer kamen die gleichen Fragen, immer das gleiche Erstaunen. Und da hab ich gedacht, das musst du jetzt mal aufschreiben."

"In Zukunft lernen wir anders" heißt das Buch, das 2009 basierend auf ihren Erfahrungen herausgekommen ist. Darin dreht sich viel um den Schulalltag, um Raumgestaltung, Leistung und – um Schönheit!

"In einer gestalteten Umgebung sich mit anspruchsvollen Themen in einer Gemeinschaft auseinandersetzen – das ist für mich schön."

Dass der Unterricht bis zur 8. Klasse auch ohne Noten funktioniert, das hat auch eines ihrer eigenen drei Kinder erfahren, das hier zur Schule gegangen ist. Und dass die Schüler sich hier wohlfühlen, das bestätigt sich jeden Morgen neu.

"Da müssen Sie sich nur morgens hinstellen und sehen wie die kommen. Das sieht gut aus."

Ulrike Keglers Buch über ihr Potsdamer Schulexperiment an der Montessori Oberschule ist im Buchhandel erhältlich. Es heißt "In Zukunft lernen wir anders. Wenn die Schule schön wird", ist 2009 erschienen im Beltz Verlag und kostet 19,95 Euro.
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