Demonstrationen gegen Putin

"Das ist eine politische Wende"

07:24 Minuten
Junge Leute bei einer nicht angemeldeten Demonstration zugunsten des Verhafteten Oppositionellen Alexej Nawalny in Moskau.
Unter jungen Leuten in Russland ist es cool geworden, gegen Putin zu demonstrieren, sagt der Schriftsteller Wladimir Kaminer. © imago-images / ITAR-TASS / Sergei Savostyanov
Wladimir Kaminer im Gespräch mit Marietta Schwarz · 26.01.2021
Audio herunterladen
In den aktuellen Protesten in Russland sieht der Schriftsteller Wladimir Kaminer das Potenzial für einen Umbruch im Land. Die Menschen sagten klar, dass sie mit dem herrschenden System der Putin-Clique nicht einverstanden seien.
Die Protestwelle in Russland gegen die Verhaftung des Oppositionellen Alexej Nawalny hat sich auf über 100 Städte ausgeweitet. Videos von Anti-Putin-Protesten vorwiegend junger Leute sollen insgesamt etwa eine Milliarde Mal auf TikTok angeklickt worden sein, schreibt die "taz".
Das zeige, dass es cool geworden sei, gegen das Regime zu protestieren, sagt der Schriftsteller Wladimir Kaminer. Junge Männer verabredeten sich zu Protestaktionen und lüden ihre Freundinnen ein, damit diese sähen, wie toll ihre Freunde seien.

Die Jungen haben keine Angst vor dem Regime

"Das ist insgesamt eine politische Wende. Früher haben bei Protesten eher ältere Menschen teilgenommen, vor allem die liberale Intelligenzija. Das ist in diesem Fall ein ganz anderes Bild. Es waren aber gar nicht so viele Jugendliche auf der Straße. Es sind sogenannte einfache Menschen, die jetzt protestieren, und zwar mehr in der Provinz als in den Hauptstädten."
Der Protest sei sehr breit geworden und umfasse alle Schichten der Bevölkerung. Die neue Generation der Protestierenden habe keine "Angst in den Knochen", wie früher ihre Eltern und Großeltern, geschlagen zu werden, sagt Kaminer.
Auch wenn das von Nawalny veröffentlichte Video "Ein Palast für Putin", in dem es um angebliche Besitztümer des russischen Staatspräsidenten und damit verbundene Korruption geht, aus Auslöser gedient habe, gehe es den jungen Menschen in erster Linie nicht darum, sondern um die Weltanschauung:
"Sie haben ein anderes Bild von ihrer Heimat, und mit diesem Bild gehen sie auf die Straße. Sie sagen Nein zu diesem System. Sie haben lange auf ihr Nachbarland Belarus geschaut und begriffen, dass sich nichts bewegt, wenn sie sich selbst nicht bewegen."

Schulische Prüfungen sollen Schüler von den Demos fernhalten

Nawalny sei noch relativ jung und spreche auch die Sprache der Jugend. Das wisse der Kreml, und dort sehe man auch, dass man die Jugend verliere. Putin verstehe die Sprache der jungen Menschen nicht. Stattdessen würden in den Schulen nicht vorgesehene Prüfungen am Wochenende angesetzt, um die Jugend von den Straßen und Demonstrationen fernzuhalten, weiß Kaminer von einer befreundeten Lehrerin in Sankt Petersburg zu berichten.
"In anderen Schulen müssen die Lehrer ihre Schüler davon abhalten, zu Protesten zu gehen", sagt Kaminer. "Das ist total peinlich. Und die Schüler sind frech. Sie fragen ihre Lehrer ganz direkt über das, was im Land gerade passiert. Meine Freunde erzählen mir, das ist eine Situation zum Schämen."
Die Proteste würden sich fortsetzen und hätten ein Potenzial für einen Umbruch im Land, so Kaminer. Statt wie früher würden die Protestierenden nicht mit Bitten und Anfragen an die Regierung auf die Straße gehen, sondern mit der Aussage, dass sie mit dem herrschenden System nicht einverstanden seien: "Das ist ein ganz deutliches Nein zu Putin und seinen Freunden, diesem kleinen Kollektiv von Menschen, die alles aus diesem Land aussaugen."
(rja)
Mehr zum Thema