Demokratie in der Krise

Überall Monster der eigenen Position

Zwei Wölfe tänzeln fauchend, kämpfend umeinander. Illustration.
Ego statt Kompromiss – der Schriftsteller Zafer Şenocak sorgt sich um den aktuellen Zustand der Politik. © imago/Ikon Images
Ein Kommentar von Zafer Şenocak · 18.02.2019
Einst waren wir stolz auf unsere Demokratien, die sich auf Kompromisse gründeten. Rechthaberei schien sich nicht mehr auszuzahlen. Heute ist Alleinherrschaft wieder populär. Wie gefährlich ist das für unsere Demokratie? Fragt sich Autor Zafer Şenocak.
Ich frage mich oft, wo der Andere geblieben ist. Eine wehmütige Erinnerung an Zeiten, wo man sich an einem Gegner gerieben hat. Zum Beispiel an Franz Josef Strauß oder an Willy Brandt.
Der Kopf hat sich verschanzt. Die Festung ist unsichtbar, aber geistig unüberwindbar, eine, die der Sprache Limits setzt. Ist das der Schutz, den ein in die Welt geworfener Mensch ersehnt? Berührung vermeiden heißt die Devise. Ein Handschlag fällt nicht nur schwer, er fällt meistens ganz aus. Statt dessen Aufrüstung, je nach Region: verbal oder handfest.
Die Reibung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, oder sagen wir besser, die Berührung zwischen Glaubensfesten und Glaubensunsicheren war meine Vorschule. In dieser lernte ich, wie gegenseitige Abneigung eine neue Form der Koexistenz hervorbrachte. Oder auch nicht.

Verlernt, den Ausgleich zu suchen

Jeder Schritt in Richtung des Anderen öffnet einen selbst. Irgendwo muss dann angehalten werden. Denn man möchte sich nicht umarmen. Ich habe das Gefühl, dass wir heute dieses Lernen des tolerierbaren Abstands nicht mehr üben. Dieses auf-den-Anderen-Zugehen, bis zu einem gewissen Punkt. Oder: Haben wir unseren Instinkt verloren, in einer Welt der Differenzen einen Ausgleich zu suchen, eine Ortung der eigenen Position, die dem Anderen Luft gibt?
Überall diese Monster der eigenen Position. Machthaber. Sie haben nicht nur Macht, sie zelebrieren sie, machen sie zur Festung, zur undurchdringlichen Sprache. Die Gegner erscheinen nicht einmal mehr am Rande, werden sprachlich diffamiert. Sie werden zu Schattenboxpartnern. Die Sprache dient der Respektlosigkeit und soll dem Anderen die Luft nehmen. Invasorentaktik.

Menschen, die sich in Bunkern verschanzen

Kann man die Lehren von Jahrhunderten auf dem langen mühsamen Weg zur Mündigkeit auf einen Schlag zunichte machen? Man kann. Der Weg zurück ist nur ein kleiner Schritt, während eine verständige Zukunft eine utopische Entfernung zu ergeben scheint.
Die Zeit der Kompromisslosigkeit ist darauf gerichtet, eine Art Alleinherrschaft zu etablieren. Gleichgesinnte bauen an Mauern. Als ich im Deutschland der 70er-Jahre aufwuchs, wurden aus Gleichgesinnten Minderheiten. Sie fingen an, um ihre Rechte zu streiten. Hätte man Willy Brandt einen Machthaber nennen können?
Trump, Erdoğan, Putin, Orban sind Machthaber. Mit 50 Prozent der Stimmen so tun, als vertrete man 90 bis 100 Prozent der Stimmen. Warum ist diese Art der Herrschaft heute wieder populär?
Es gibt inzwischen immer mehr Menschen, die in einem Bunker leben. Die Bunker der Welt sind miteinander vernetzt. Man muss sie nicht mehr verlassen, um auf der Welt zu sein.

Sich von Diffamierung fernhalten

Ich muss zugeben, dass ich mich sehne, nach alten Zeiten. Doch ich wehre mich auch dagegen ein Nostalgiker zu sein. Also Schreiben mit der wenigen Luft, die uns bleibt. Sich frei schreiben. Das heißt auch plötzlich: ganz allein stehen. Plötzlich wieder in die Ferne schauen, geistiges Fernweh spüren.
Weg von der Manifestsprache, sich von Diffamierung fernhalten. Plötzlich kann man verdrängte Wörter entdecken, mit denen man rufen kann. Ein Ruf, der einen anderen erreicht. Ein Gebetsruf, der nicht an den Ohren kratzt, sondern aus dem Geist der Musik stammt. Ein naiver Gedanke, vielleicht der letzte, der uns bleibt.

Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen. 1998 erhielt er den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift "Sirene" wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben.
Veröffentlichungen u.a.: "Gefährliche Verwandtschaft. Roman" (1998), "Der Erotomane. Ein Findelbuch" (1999), "Atlas des tropischen Deutschland. Essays" (1992/1993), "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas. Essays" (1994), "Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation" (2001), "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" (2006), "Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift" (Edition Körber-Stiftung, 2011), "In deinen Worten, Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters" (2015), "Das Fremde, das in jedem wohnt", Hamburg 2018.

© Deutschlandradio / Torben Waleczek
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