Demokratie im Kleinen

19.03.2012
Zur Freiheit im Sinne des neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck gehört nach den Worten des Historikers Christian Meier auch Widerstand und Sabotage. Manche Regeln, die einem auferlegt würden, müsse man regelrecht sabotieren.
Jan-Christoph Kitzler: Große, vielleicht übergroße Erwartungen und viele Vorschusslorbeeren, die haben Joachim Gauck in das Amt des Bundespräsidenten getragen. Und gestern, in der Bundesversammlung, hat sich das gezeigt an über 80 Prozent Zustimmung. Manche, die diese Wahl beobachtet haben, meinen, Joachim Gauck wird viele überraschen, aber die Hoffungen, die mit ihm zum Teil verbunden sind, die kann er gar nicht erfüllen. Auch der Althistoriker Christian Meier hat die Wahl gestern verfolgt und auch die erste Rede Joachim Gaucks im Amt. Meier hat sich immer wieder geäußert über die Entstehung des Politischen in der griechischen Polis, er hat sich aber auch über die Gegenwart geäußert und war auch noch Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung. Ich habe Christian Meier vor der Sendung gesprochen und meine erste Frage war, ob ihn die relativ kurze und schnörkellose Rede des gewählten Bundespräsidenten gestern überzeugt hat?

Christian Meier: Was heißt überzeugt, also, ich fand sie ganz gut und ich habe keine Einwände. Ich meine, was soll er sagen? Soll er ein ganzes Programm entwickeln? Das kann man doch gar nicht.

Kitzler: Joachim Gauck hat als Erstes in seiner Rede die Vergangenheit beschworen, hat an die ersten freien Wahlen in der DDR, auf den Tag genau vor 22 Jahren, erinnert. Wie wichtig ist das denn, an so einem Tag zurückzuschauen?

Meier: Na ja, man muss doch irgendwie zurückschauen, wir kommen doch aus der Vergangenheit heraus, natürlich um die Zukunft zu gehen, aber irgendworan muss man sich ja orientieren. Und das kann man ja nicht an der Zukunft, denn die ist ja ungewiss. Man muss doch in irgendeiner Weise seine Position beziehen und das beruht doch darauf, wo man herkommt. Und Herr Gauck steht natürlich als ehemaliger Chef der Gauck-Behörde für dieses Teil der Vergangenheit, aber er will doch aus dieser Vergangenheit heraus Leben neu formen. Sein eigenes sowieso, das hat er ja schon getan, aber in irgendeiner Weise doch auch das der Bundesrepublik.

Kitzler: Joachim Gauck hat gesagt, er wolle helfen, die Kluft zwischen der Politik und den Bürgern zu verringern. Und er will die Bürger davon überzeugen, Verantwortung zu übernehmen. Hören wir noch mal einen kurzen Ausschnitt aus der Rede!

O-Ton Joachim Gauck: Ob wir also als Wahlbevölkerung am Fundament der Demokratie mitbauen oder ob wir als Gewählte Weg und Ziel bestimmen: Es ist unser Land, indem wir Verantwortung übernehmen, wie es auch unser Land ist, wenn wir die Verantwortung scheuen.

Kitzler: Joachim Gauck gleich nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten. Christian Meier, vom Bundespräsidenten heißt es in einem Lied vom Kabarettisten und Liedermacher Reinald Grebe, er habe die Macht der warmen Worte. War die Rede von Joachim Gauck mehr als eine Sonntagsrede?

Meier: Ja schon, ja und nein, denn es ist ja … Einerseits ist sie an einem Sonntag gehalten und hat natürlich einen ganz allgemeinen Duktus, nur andererseits ist es ja doch ein Stück, ja, würde ich sagen, Positionierung in dem neuen Amt, indem er klarmachen will, von welcher Position aus er das Amt betreiben will und in diesem Amt leben will und mit diesem Amt etwas machen will.

Kitzler: Blicken wir mal weit zurück in die Vergangenheit: Sie haben untersucht, wie in der griechischen Polis so eine Art Vorstufe der Demokratie entstanden ist. Aber, muss man dazu sagen, Athen war ja ein relativ kleines Gemeinwesen. Können wir aber vielleicht von Athen lernen, Demokratie wieder von unten zu denken, von dem Ort, an dem echte Menschen persönlich miteinander streiten und persönlich Verantwortung übernehmen?

Meier: Also, ich würde sagen, Athen hat nicht eine Vorstufe der Demokratie, sondern sie haben eine Demokratie gehabt. Während bei uns ja die Demokratie etwas Abgeleitetes ist, wir können das ja in diesen Großstaaten gar nicht machen. Es geht ja nicht nur um die Größe, sondern es geht ja auch darum, dass wir eine spezialisierte Gesellschaft sind, jeder hat ganz unterschiedliche Berufe. In Athen hatten sie im Grunde natürlich Tätigkeiten, aber bei Weitem nicht dieses Ausmaß an Spezialisierung. Sie konnten sich von morgens bis abends damit beschäftigen, sie haben nicht nur bestimmte Beschlüsse gefasst, sondern gleichzeitig auch Ämter bekleidet, und zwar in ständigem Wechsel, immer auf ein Jahr, vielleicht sogar auf noch kürzere Zeiten, und mussten dann weg und mussten durch Neue sich ersetzen lassen. Also, das ist unvergleichlich. Dass man in irgendeiner Weise versuchen muss, so weit man kann Demokratie in unseren Breiten herzustellen, das finde ich richtig. Aber was eigentlich das bedeuten kann und worin wir eigentlich wirklich mitsprechen können, worin wir überhaupt befragt werden können, das ist doch eine offene Frage. Ich meine, die Tatsache, wie man demoskopisch das macht, die ist ja nur bedingt richtig. Ich meine, das sind Antworten auf Fragen, die man gestellt bekommt von einem Demoskopen, während … Das, was wir brauchen, ist ja eine Diskussion, dass man also in der Diskussion diese Thesen, die man dann vorbringt, auch diskutiert, verändert und damit neu begründet. Also, insofern können wir eigentlich heute eine Demokratie ernst genommen gar nicht haben.

Kitzler: Joachim Gauck spricht ja vom Thema Freiheit und vom Thema Verantwortung. Wo liegt denn die Freiheit eigentlich in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird – Sie haben das ja auch beschrieben –, in der man manchmal das Gefühl hat, man wird eher ferngesteuert?

Meier: Ja, die liegt darin, dass man frei sein will, würde ich sagen. Die liegt darin, dass man, so weit es überhaupt möglich ist, versucht, frei zu sein, das heißt, sich unabhängig zu machen vom Mainstream, sich unabhängig zu machen von allen möglichen anderen Meinungen, sondern seine eigene Meinung äußert und sich dann auch behauptet mit dieser Meinung, im Gespräch und der Auseinandersetzung mit anderen. Dass man auch ich würde nicht sagen Widerstand, ja, sogar Sabotage leistet. Sie können heute etwa als Hochschullehrer vernünftig gar nicht arbeiten im Sinne der Studenten, wenn Sie nicht alles Mögliche sabotieren, was Ihnen von der Bürokratie auferlegt wird. Da gibt es einen ganzen weiten Bereich der Freiheit. Es ist sicher nicht das Einzige, worum es geht, aber ein wichtiger Bereich, würde ich sagen, ist das schon. Und an den Stellen kann jeder Einzelne mitmachen. Das ist sozusagen die Demokratie im Kleinen, die dann immer noch möglich ist.

Kitzler: Die Erwartungen an den gewählten Bundespräsidenten sind hoch, der gilt als ein brillanter Redner. Ein anderes Label, was ihm angepappt wird, ist ja dieses des Demokratielehrers. Ist es das, was wir vielleicht im Moment brauchen, jemand, der uns zeigt, was Demokratie bedeutet, oder vielleicht mit Ihrem Skeptizismus: Was Demokratie gar nicht sein kann?

Meier: Ja, das ist ja ein ganz neues Wort, mir ist das bisher noch nicht vorgekommen, Demokratielehrer. Man hat es ja auch benutzt für Dolf Sternberger … Nebenbei gesagt, es war ein Zitat, was von Theodor Mommsen stammt und nicht von Dolf Sternberger, "Ich wünschte, ein Bürger zu sein". Die Frage, ob man Demokratie lehren kann, das kann man natürlich in gewissem Umfang, aber muss eigentlich von den Bürgern selbst gelernt werden, in der Ausübung. Man kann allenfalls die Bürger dazu ermutigen und muss versuchen, ihnen ihre Freiheit auch manchmal geradezu aufzureden in diesem doch weitgehend paternalistisch sich gebenden Staat. Wenn Sie von den Griechen reden, wenn Sie das griechische Bürgerrecht … Das ist wirklich ein Recht auf politische Mitsprache. Was wir heute haben, ist eigentlich viel stärker ein römisches Bürgerrecht: Die Römer hatten eigentlich kaum das Recht zur Mitsprache, aber sie hatten gewisse Rechte, die respektiert werden mussten, Grundrechte würden wir heute sagen, Freiheiten, und wenn Sie die EU angucken, dann gibt es auch noch Konsumentenrechte. Überall werden wir da bedient. Zum Teil geachtet, was die Grundrechte angeht, zum Teil bedient. Aber dass wir uns bestimmte Rechte auch selber nehmen müssen, das wäre mindestens im Ansatz etwas Demokratisches. Und das ist Freiheit.

Kitzler: Das heißt, der Demokratielehrer müsste einer sein, der uns beibringt, dass wir Freiheit wollen müssen?

Meier: Ja, ja, und das auch vormacht, auch seinerseits diese Freiheit beansprucht.

Kitzler: So sieht es Christian Meier, der Althistoriker und frühere Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, schönen Tag!

Meier: Bitte schön, danke schön!


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