Demirtas-Prozess in der Türkei

Kurzgeschichten aus dem Gefängnis

Selahattin Demirtas von der HDP spricht bei einer Veranstaltung.
In der Türkei beginnt der Prozess gegen Selahattin Demirtas. © dpa / picture-alliance / Lukas Lehmann
Von Susanne Güsten · 03.12.2017
In der Türkei beginnt der Prozess gegen den Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas. Die Staatsanwaltschaft legt ihm Verbindungen zur kurdischen Terrororganisation PKK zur Last und fordert 142 Jahre Haft. Kritiker vermuten allerdings eine politisch motivierte Anklage.
Ansturm auf der Buchmesse in Istanbul vor ein paar Wochen: Mehrere tausend Leser stehen an, um sich einen Band von Kurzgeschichten signieren zu lassen. Doch der Autor des Buches, Selahattin Demirtas, ist selbst gar nicht anwesend - er sitzt seit über einem Jahr in Untersuchungshaft. An seiner Stelle signieren ein Dutzend anderer Schriftsteller das Buch, darunter die Romanautorin Mehtap Ceyran, die sich im Oppositionssender Arti äußert:
"Wir sind aus Solidarität hier und signieren Bücher für Autoren hinter Gittern. Wie Sie sehen, ist der Andrang gewaltig, die Sympathie für Selahattin Demirtas ist groß. Wir hoffen, dass diese Zuneigung die Gefängnismauern überwinden kann."
Populär ist Selahattin Demirtas in der Türkei seit Jahren. Als Präsidentschaftskandidat der pro-kurdischen Partei HDP erhielt der Rechtsanwalt aus Ostanatolien vor drei Jahren fast zehn Prozent der Wählerstimmen - für einen kurdischen Politiker in der Türkei ein enormer Erfolg.
Als Parteivorsitzender führte er die HDP ein Jahr später zu einem historischen Höhepunkt: Als erste Kurdenpartei überwand sie bei den Parlamentswahlen vom Juni 2015 die Zehn-Prozent-Hürde und zog in die türkische Volksvertretung ein.
Dazu trugen nicht nur die Friedensgespräche bei, in denen die HDP damals zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Terrorgruppe PKK vermittelte. Es war vor allem ein Wahlversprechen von Selahattin Demirtas, das der HDP weit über das kurdische Lager hinaus linke, liberale und bürgerliche Wählerstimmen einbrachte:
"Sehr geehrter Recep Tayyip Erdogan: Wir machen dich nicht zum Herrscher. Wir machen dich nicht zum Herrscher. Wir machen dich nicht zum Herrscher."

Seine Kurzgeschichten stehen auf der Bestsellerliste
Mit diesem Statement versprach Demirtas den Wählern im März 2015, dass die HDP niemals die Pläne des Staatspräsidenten zum Umbau der Verfassung zu einem Präsidialsystem unterstützen werde - eine Kampfansage an Recep Tayyip Erdogan. Die HDP zog damit ins Parlament ein und die Regierungspartei AKP verlor ihre Mehrheit, doch Erdogan ließ die Wahl einfach wiederholen.
Bei der Neuwahl im November 2015 schaffte die HDP es zwar mit knapper Not wieder ins Parlament, doch die AKP bekam ihre Mehrheit wieder. Ein Jahr später wurden Selahattin Demirtas und ein Dutzend weitere HDP-Abgeordnete nachts von der Polizei abgeholt. Und das Präsidialsystem wurde in diesem Frühjahr per Volksabstimmung eingeführt.
Selahattin Demirtas spielt die "baglama", das türkische Volksinstrument - mit solchen Auftritten begeisterte er im Wahlkampf seine Anhänger, die ihn als volksnahen Anwalt der Armen sehen. Die türkische Staatsanwaltschaft betrachtet ihn dagegen als Terroristen und wirft ihm Rädelsführerschaft in der PKK vor. Seit mehr als einem Jahr wartet Demirtas im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne auf den Prozess.
Hinter Gittern hat er die Kurzgeschichten verfasst, die sich seit Erscheinen im September auf der Bestsellerliste halten und jetzt für den Andrang auf der Buchmesse sorgten. Von den Härten des Lebens in der Türkei handeln die Kurzgeschichten, von Armut, harter Arbeit, Gewalt und Gefängnis. Auch Einblicke in seinen eigenen Alltag hinter Mauern gibt Demirtas darin:
"Unser Hof im Gefängnis ähnelt einem rechteckigen Betonbrunnen. Ungefähr vier Meter mal acht Meter groß ist er. Man wird dort nicht fertig mit dem Laufen. Man kann morgens anfangen zu laufen und bis zum Abend nirgends ankommen. Wir nutzen den Hof zu zweit, ich und der Parlamentsabgeordnete Abdullah Zeydan, doch er gehört nicht uns alleine - wir teilen ihn mit den Ameisen und den Spinnen."
Illustriert hat Demirtas den Band mit Bleistiftzeichnungen von Gefängnismauern, von den Spatzen im Hof hinter seiner Zelle und von Szenen aus seiner Heimatstadt Diyarbakir. Ein Politiker, der zeichnet und musiziert und schreibt, so sagte ein Leser in einem Istanbuler Café neulich wehmütig über dem Buch - der fehle der Türkei.
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