Dem Volke dienen!
Haben Abgeordnete ein Gewissen? Wann ist der richtige Zeitpunkt, es zu entdecken? Und dürfen sie, haben sie ihr Gewissen erst entdeckt, davon auch Gebrauch machen?
Der Volksmund und die hessische SPD haben darauf eine klare Antwort: Abgeordnete sind geldgeil und auf Macht und Pöstchen angewiesen, also rückgratlos und erpressbar. Und sie sind nicht gewählt, um ihr Gewissen zu erforschen. Es reicht, wenn sie an der richtigen Stelle die Hand heben. Alles andere erledigt die Partei.
Interessant. Im Grundgesetz steht es anders. Da wird er als ganz und gar unabhängige Kraft gedacht, der gewissenhafte Abgeordnete, der an Aufträge und Weisungen, auch der eigenen Partei, nicht gebunden und der niemandem verpflichtet ist als dem Volk, dessen Vertreter er ja sein soll. Fraktionszwang und Führerprinzip sind ebenso wenig vorgesehen wie eine Strafe für jemanden, der sich nicht fügt. Ihr Abstimmungsverhalten darf den Abgeordneten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Sie sind unabhängig, sie sind frei. Doch was ist, wenn die Inanspruchnahme dieser Freiheit sie ihre Karriere kostet, wie es in Hessen den vier Abtrünnigen zu ergehen scheint?
Das bestätigte allerdings nur, was der Tresenschwätzer sowieso denkt: Das Grundgesetz ist Schall und Rauch, wenn es um die Macht geht. Oder um eine historische Mission. Was gilt schon die Freiheit, erst recht die eines Abgeordneten, scheinen manche Politiker zu denken, wenn es um höhere Werte geht, um die historische Notwendigkeit, um "die Sache"? In Hessen offenbarte sich ein erschreckend legerer Umgang nicht nur mit Freiheitswerten, sondern auch mit dem Willen der Bürger und dem Wohl des Landes. Rechtfertigt "die Sache" Fraktionszwang und Mobbing, fordert sie Nibelungentreue?
Und – na ja: kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? "Die Partei hat immer recht" ist die Parole ideologiefester Kaderparteien. Jene Mitglieder der "Linken" mit SED-Wurzeln und DDR-Affinität kennen das gut – dass Wahlsiege von vornherein feststehen, dass Abweichungen von der Parteilinie nicht vorgesehen sind, dass die Meinung der Bürger nicht zählt.
Doch dass auch die SPD, immerhin die älteste demokratische Partei Deutschlands, sich auf das Niveau einer Kaderpartei herablässt, ist das wirklich Tragische am Ypsilanti-Debakel. Und mindestens ebenso tragisch: dass ausgerechnet die hessischen Grünen das Spektakel mitgemacht haben, von dem Tarek al-Wazir einmal hellsichtig sagte, es könnte sich als Himmelfahrtskommando entpuppen.
Andererseits: ist das wirklich so verwunderlich? Als die Grünen einst antraten, hieß ihr Allheilmittel gegen Politik- und Parteienverdruss: Basisdemokratie. Klingt toll, sieht aber den unabhängigen Abgeordneten ebenso wenig vor. Im Gegenteil: In den ersten grünen Bundestagsfraktionen wurden die Abgeordneten fest an die Kandare genommen. Da gab es nicht nur Fraktionszwang, da durften sogar die mit keinerlei Mandat demokratisch legitimierten Mitarbeiter darüber abstimmen, wie sich die Abgeordneten zu verhalten hatten. Weder Rotation noch der Verzicht auf einen erklecklichen Anteil ihrer Abgeordnetendiäten vertrug sich mit der im Grundgesetz festgelegten Definition der Abgeordneten als Vertreter des Volkes, die seine Austauschbarkeit ebenso wenig vorsah wie die verdeckte Parteienfinanzierung durch Zwangsspenden. Kaum jemand war derart von seiner Partei abhängig als ein grüner Parlamentarier der ersten Stunde.
Doch sieht es woanders besser aus? Der Volksmund braucht keine vier Bier, um das abzustreiten: Auch bei den anderen Parteien gilt Fraktionszwang, werden Abstimmungen nur in seltenen Fällen "freigegeben", sind Abgeordnete käuflich und erpressbar, nicht zuletzt von den mächtigen Lobbys, deren Interessen sie weit häufiger vertreten als die all der anderen ihrer Wähler. Und das, ein Grundübel unseres Systems, ist der Grund für jene Politikverdrossenheit des Stimmviehs, die allenthalben beklagt wird.
Aber wäre dann nicht in Hessen das Allerunwahrscheinlichste passiert? Dass Abgeordnete einmal nicht den eigenen Vorteil suchen, sondern tatsächlich von einer kaum fasslichen Tugend ergriffen worden sind, die da heißt: dem eigenen Gewissen zu folgen? Dann allerdings wären die vier keine Verräter, sondern Helden der Demokratie.
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des 'Spiegel'. Zuletzt veröffentlichte sie 'Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte', 'Die neue Etikette' und 'Das Handwerk des Krieges'.
Interessant. Im Grundgesetz steht es anders. Da wird er als ganz und gar unabhängige Kraft gedacht, der gewissenhafte Abgeordnete, der an Aufträge und Weisungen, auch der eigenen Partei, nicht gebunden und der niemandem verpflichtet ist als dem Volk, dessen Vertreter er ja sein soll. Fraktionszwang und Führerprinzip sind ebenso wenig vorgesehen wie eine Strafe für jemanden, der sich nicht fügt. Ihr Abstimmungsverhalten darf den Abgeordneten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Sie sind unabhängig, sie sind frei. Doch was ist, wenn die Inanspruchnahme dieser Freiheit sie ihre Karriere kostet, wie es in Hessen den vier Abtrünnigen zu ergehen scheint?
Das bestätigte allerdings nur, was der Tresenschwätzer sowieso denkt: Das Grundgesetz ist Schall und Rauch, wenn es um die Macht geht. Oder um eine historische Mission. Was gilt schon die Freiheit, erst recht die eines Abgeordneten, scheinen manche Politiker zu denken, wenn es um höhere Werte geht, um die historische Notwendigkeit, um "die Sache"? In Hessen offenbarte sich ein erschreckend legerer Umgang nicht nur mit Freiheitswerten, sondern auch mit dem Willen der Bürger und dem Wohl des Landes. Rechtfertigt "die Sache" Fraktionszwang und Mobbing, fordert sie Nibelungentreue?
Und – na ja: kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? "Die Partei hat immer recht" ist die Parole ideologiefester Kaderparteien. Jene Mitglieder der "Linken" mit SED-Wurzeln und DDR-Affinität kennen das gut – dass Wahlsiege von vornherein feststehen, dass Abweichungen von der Parteilinie nicht vorgesehen sind, dass die Meinung der Bürger nicht zählt.
Doch dass auch die SPD, immerhin die älteste demokratische Partei Deutschlands, sich auf das Niveau einer Kaderpartei herablässt, ist das wirklich Tragische am Ypsilanti-Debakel. Und mindestens ebenso tragisch: dass ausgerechnet die hessischen Grünen das Spektakel mitgemacht haben, von dem Tarek al-Wazir einmal hellsichtig sagte, es könnte sich als Himmelfahrtskommando entpuppen.
Andererseits: ist das wirklich so verwunderlich? Als die Grünen einst antraten, hieß ihr Allheilmittel gegen Politik- und Parteienverdruss: Basisdemokratie. Klingt toll, sieht aber den unabhängigen Abgeordneten ebenso wenig vor. Im Gegenteil: In den ersten grünen Bundestagsfraktionen wurden die Abgeordneten fest an die Kandare genommen. Da gab es nicht nur Fraktionszwang, da durften sogar die mit keinerlei Mandat demokratisch legitimierten Mitarbeiter darüber abstimmen, wie sich die Abgeordneten zu verhalten hatten. Weder Rotation noch der Verzicht auf einen erklecklichen Anteil ihrer Abgeordnetendiäten vertrug sich mit der im Grundgesetz festgelegten Definition der Abgeordneten als Vertreter des Volkes, die seine Austauschbarkeit ebenso wenig vorsah wie die verdeckte Parteienfinanzierung durch Zwangsspenden. Kaum jemand war derart von seiner Partei abhängig als ein grüner Parlamentarier der ersten Stunde.
Doch sieht es woanders besser aus? Der Volksmund braucht keine vier Bier, um das abzustreiten: Auch bei den anderen Parteien gilt Fraktionszwang, werden Abstimmungen nur in seltenen Fällen "freigegeben", sind Abgeordnete käuflich und erpressbar, nicht zuletzt von den mächtigen Lobbys, deren Interessen sie weit häufiger vertreten als die all der anderen ihrer Wähler. Und das, ein Grundübel unseres Systems, ist der Grund für jene Politikverdrossenheit des Stimmviehs, die allenthalben beklagt wird.
Aber wäre dann nicht in Hessen das Allerunwahrscheinlichste passiert? Dass Abgeordnete einmal nicht den eigenen Vorteil suchen, sondern tatsächlich von einer kaum fasslichen Tugend ergriffen worden sind, die da heißt: dem eigenen Gewissen zu folgen? Dann allerdings wären die vier keine Verräter, sondern Helden der Demokratie.
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des 'Spiegel'. Zuletzt veröffentlichte sie 'Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte', 'Die neue Etikette' und 'Das Handwerk des Krieges'.