Dem privaten Chaplin auf der Spur

Von Elske Brault · 03.02.2006
1977 ist er im Alter von 88 Jahren gestorben, aber eine Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen lässt Charlie Chaplin wieder lebendig werden: "Chaplin in Bildern – Mensch, Mythos, Filmemacher" heißt sie, und verspricht, den privaten Chaplin hinter dem angeklebten Schnurrbart zu zeigen: Mit bislang unveröffentlichten Fotos von den Dreharbeiten zu Chaplins Filmen und Super-Acht-Filmen aus dem Familienarchiv aus den 60er Jahren.
Wie ein Leitmotiv steht ein Kurzfilm von 1914 am Anfang der Ausstellung. Damals ein Kinoerfolg, heute vergessen. Chaplin ist hier schon der Charlie, der Tramp mit Schnurrbart und Melone, Spazierstock und zu großen Schuhen. Er hat den Film an einem Nachmittag abgedreht, vor dem Hintergrund eines tatsächlich gerade stattfindenden Seifenkistenrennens. Und die ganzen sieben Filmminuten bestehen nur aus einem Gag, wiederholt in vielerlei Variationen: Charlie versucht, sich vor die Kameras der Zeitungsreporter zu drängen, die statt seiner das Rennen ablichten wollen. Der Pariser Kurator Sam Stourdzé sieht in Chaplin einen herausragenden Protagonisten des Medienzeitalters, das damals doch gerade erst begonnen hat.

"Da gibt es diese Omnipräsenz der Kamera, das Spiel eines Mannes aus dem einfachen Volk, die Mischung aus Fiktion und Dokumentation. Da ist man mitten in der Gegenwart. Und dann dieser Wunsch, ein Star zu sein, von dem heute die Reality-Shows im Fernsehen leben: Da muss man dran erinnern, dass Charlie Chaplin die erste Filmdiva war. Der erste Star des Star-Systems. Vorher gab es keine Schauspieler, denen es gelungen war, durch die Verbreitung ihres Bildes im Kino die Welt zu erobern."

Mit Charlie, dem Tramp, hatte Chaplin eine Figur geschaffen, die von Prag bis Los Angeles verstanden und bejubelt wurde. Alte Filmplakate und Zeitschriftentitel belegen das ebenso wie jener Raum, der Charlies Wirkung auf die moderne Kunst gewidmet ist. Fernand Leger hat Charlot, wie er in Frankreich heißt, mehrfach in geometrische Formen zerlegt und mit diesen Versatzstücken den ersten kubistischen Film gedreht, auch hier zu sehen: Ein Tramp aus kantigen Holzplättchen tanzt da mit seinem Spazierstock. Die Entstehung und allmähliche Weiterentwicklung der Tramp-Figur zeigen Standfotos von den Dreharbeiten zu Chaplins frühen Filmburlesken: und die sind nicht nur eine Notlösung, weil die dazu gehörigen Filme teilweise vernichtet sind. In das stehende Bild kann der Besucher sich vertiefen, während zahlreiche Filmausschnitte Chaplins traumhafte Bewegungssicherheit vorführen, seine tänzerische Auflösung von Boxkämpfen oder Verfolgungsjagden. Chaplin, der Mensch, verschwindet bis Ende der 40er Jahre völlig hinter Charlie, dem Tramp. Auf den wenigen Fotos, die Chaplin privat zeigen, kann ihn nur Kurator Sam Stourdzé identifizieren.

"Hier! Da ist er in zivil. Man erkennt ihn nicht ohne seinen Schnurrbart und das Kostüm. Und da 1917 beim ersten Spatenstich für sein eigenes Studio. Das ist er! Charlie und Chaplin, das sind zwei verschiedene Personen. Er zögerte nicht, ins Kino zu gehen, um sich seine eigenen Filme anzuschauen und die Reaktion des Publikums zu testen: Er kam incognito, und niemand erkannte ihn."

Der erste Spatenstich für das eigene Studio war der Beginn eines lebenslangen Kampfes um Unabhängigkeit: Chaplin wollte sich von niemandem in die Produktion seiner Filme hineinreden lassen, die Macht über das Bild, das er von sich schuf, sollte ihm allein gehören, und er war ein gnadenloser Perfektionist. Fotos von der Arbeit an "Lichter der Großstadt" belegen, dass Chaplin drei Monate brauchte, bis er für eine Schlüsselszene des Films, die erste Begegnung mit der blinden Blumenverkäuferin, die ideale Bildfolge gefunden hatte.

"Er sucht nach neuen Ideen, während er dreht, er weiß, dass diese Szene in der dramatischen Struktur seines Films der Dreh- und Angelpunkt ist, und er hat nur zwei Minuten, um seinen Zuschauern in einem Stummfilm klar zu machen: Das Junge Mädchen ist blind, und es hält den Tramp für einen Millionär. Drei Monate Arbeit, um dahin zu kommen."

Als Chaplin sich gegen den Tonfilm nicht länger wehren konnte, musste er sich auch von der Figur des Tramps verabschieden. Denn der war nun einmal ein Meister der Körpersprache, wie jener Ausschnitt aus "Moderne Zeiten" beweist, in dem Charlie der Liedtext wegfliegt und er mit perfekter Pantomime klarmacht, worum es geht, während er zugleich ein Unsinns-Esperanto singt.

Äußerlich kam Chaplin nun seinen Filmfiguren näher, aber den privaten Chaplin kann man in dieser Ausstellung dennoch nicht finden. Auch in den Super-Acht-Filmen aus dem Familienfundus spielt er den Clown, sobald er die Kamera auf sich gerichtet fühlt. Der über 70-Jährige Chaplin krabbelt da auf allen Vieren vor seinen Kindern her. Er jongliert mit Orangen und wiederholt die alten Gags. Mit seinem Enkel Charlie Sistovaris, heute Mitarbeiter der Pariser Fondation Chaplin, betrachte ich diese Filme. Doch seinen Großvater, so wie er ihn kannte, findet Charlie Sistovaris hier nicht. Einen Moment nämlich, da Charles Spencer Chaplin unbeobachtet ist und ganz nur bei sich.

"Da spielt er nicht den Clown. Ach schade, vorbei, er fängt wieder an. Ich glaube, er war sich dessen bewusst, dass dieses Bild von ihm seinen Tod überdauern würde. Selbst vor einer Kamera, deren Aufnahmen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, versuchte er dem Bild gerecht zu werden, das diese Öffentlichkeit von ihm hatte."

Service: Die Ausstellung "chaplin in pictures: mensch, mythos, filmemacher"ist bis zum 28. Mai in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen.