Dem jüdischen Leben eine Stimme geben

Von Dieter Wulf |
Von seiner Berliner Altbauwohnung aus hat der Publizist Rafael Seligmann die erste Ausgabe der englischsprachigen "Jewish Voice from Germany" produziert. In der neuen Zeitung möchte er über den jüdischen Alltag in Deutschland informieren. Auch namhafte Autoren beteiligen sich an dem Projekt.
"Jeder Mensch, der die deutsche Geschichte kennt, der weiß, dass es da auch einen jüdischen Anteil hat und jeder Mensch, der die jüdische Geschichte kennt, weiß, dass es da einen sehr großen deutschen Anteil hat. Nicht nur unter Hitler, es gibt 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte und dass man dieses Miteinander wieder belebt, das ist die Raison d'être, also die Grundidee dieser Zeitung … "

… erklärt Rafael Seligmann die Idee für seine neue Zeitung "Jewish Voice from Germany". Über den wiedererstandenen lebendigen Alltag jüdischen Lebens in Deutschlands wisse die restliche jüdische Welt viel zu wenig, fand der Politologe und Schriftsteller. Um das zu ändern, fand er, bräuchte es eine Zeitung auf Englisch.

Viermal im Jahr, soll die Zeitung ab jetzt erscheinen. Dafür Büroräume anzumieten lohne sich einfach nicht, meint Rafael Seligmann und zeigt die Redaktionsräume beim Gang durch seine geräumige Altbauwohnung in Berlin-Wilmersdorf.

"Dies hier ist die Bibliothek, da steht normalerweise eine Tischtennisplatte. Die Tischtennisplatte wird rausgeräumt, kommt in unser Berliner Zimmer und ist unser Produktionsdesk, da haben wir nämlich genug Platz für 24 Seiten und, so Gott will, eines Tages für 32 Seiten, wenn genügend Reklame hinzukommt. Hier steht während der Produktionswoche unser Wohnzimmertisch, auf dem produziert unser Art Director und Layouter die Zeitung."

Das Blatt ist zumindest anfangs als Gratiszeitung konzipiert, die sich über Anzeigen finanzieren soll, erklärt Rafael Seligmann.

"Mein Konzept ist, ich wollte eine Zeitung, die sofort gehört wird. Wenn ich Anfange, um Abonnenten zu werben - ich habe keinen Vertrieb -, dann bräuchte ich einen wirklich starken Verlag hinter mir. Diese Möglichkeit gab es, ich wollte es nicht. Denn: Wenn eine Maus mit einem Elefant Tango tanzt, kann der Elefant besten Willens sein - wenn er einen kleinen Fehltritt hat, ist die Maus platt. Die Überlegung war so, die Zeitung umsonst zu verteilen und von Anzeigen zu leben."

Die Zeitung im Tabloidformat kommt modern und ansprechend daher und mit einer Autorenliste, die sich sehen lassen kann. Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" diskutiert auf Seite eins ein NPD-Parteiverbot. Der Außenpolitikredakteur der "Welt", Clemens Wergin, schreibt über die Nuklearambitionen des Iran. Ausführlich wird die Eurokrise skizziert und dem internationalen Leser erklärt, warum der deutsche Immobilienmarkt stabiler ist als anderswo.

Bei manchen Artikeln ist der Bezug zur jüdischen Welt sofort klar, bei anderen zumindest nicht auf den ersten Blick erkennbar. Wer aber eigentlich die Leser sind, für die man hier schreibt, das müsse sich erst noch herausstellen, gibt der amerikanische Historiker Michael Cullen zu, der in Zukunft als einer der Chefredakteure der Zeitung arbeiten wird:

"Soll man erklären, wie das deutsche Wahlsystem oder Wahlprogramme aussehen? Weiß man in Amerika den Unterschied zwischen dem Bundesrat und dem Bundestag? Das sind Voraussetzungen, die man bedenken müsste, das Gleiche gilt für die Organisation der Medienwelt in Deutschland. Das ist ganz anders als in Amerika und ganz anders als in Israel oder in Australien oder in Großbritannien."

Zumindest auf den Politikseiten richtet sich diese erste Ausgabe an international orientierte Leser, die sich zumindest ansatzweise mit deutschen Themen auskennen. Ob man aber bei Lesern jüdischer Gemeinden in Amerika, Australien oder Neuseeland tatsächlich so viel Hintergrundwissen zum Beispiel über die innerdeutsche Verbotsdebatte der NPD voraussetzen kann, wie Heribert Prantl das tut, ist wohl eher fraglich.

Finanziell scheint das Projekt zu funktionieren. Trotz der immensen Versandkosten konnte offenbar schon die erste Ausgabe problemlos durch Anzeigen finanziert werden. Ein Viertel der 30.000 Exemplare wird in Deutschland an Verbände und Institutionen verteilt. Ansonsten geht die Zeitung, meist mit individueller Post, an jüdische Einrichtungen in aller Welt, erklärt Rafael Seligmann:

"Da lässt sich heute im Internet viel recherchieren. Interessanterweise hat mir hier ein Rabbiner dabei sehr geholfen. Ein orthodoxer Rabbiner, der gesagt hat, schau mal her, was alles übers Internet möglich ist. Der hat sich einfach drei Stunden mit uns zusammengesetzt und wir waren wirklich erstaunt. Es gibt Internetseiten, in denen man sehr viel erfährt, auch Adressen auch Namen."

Jetzt, nach der ersten Ausgabe, meint Michael Cullen, warte die Redaktion auf die Kritik der Leser aus aller Welt.

Auf eine sehr deutliche Reaktion aus Israel wird man wohl nicht lange warten müssen. Denn auch alle israelischen Knessetabgeordneten bekommen in diesen Tagen ein Exemplar zugeschickt. Den Aufruf von Rafael Seligmann, prominent auf Seite zwei platziert, Israel solle Palästina sofort als erster Staat anerkennen, wird sicher nicht unkommentiert bleiben. Aber das ist ja der Sinn einer Zeitung.