Dem Fluss des Lebens abgeschaut

29.04.2011
Dass aus einem Theatertext ein Roman wird, ist eher selten. Der Schauspieler Joachim Meyerhoff hat am Wiener Burgtheater das autobiografische Projekt "Alle Toten fliegen hoch" gestartet. Der erste Teil ist nun als Hörbuch erschienen.
"Vor uns lag eine weit offene Landschaft, geschwungen und – ja, tatsächlich – von schneebedeckten Bergen umgrenzt. Stan wischte sich mit einem aus der Hosentasche hervorgekramten Taschentuch die Stirn ab und drehte das Fenster einen Spaltbreit herunter. Wir kamen durch Cheyenne. Er sagte zu mir: One more hour to go."

Ein deutscher Austauschschüler sieht zum ersten Mal seine neue Heimat. Ein Jahr wird er in Laramie verbringen, im ländlichen Bundesstaat Wyoming. Er versteht höchstens ein Drittel von dem, was die Leute sagen, und muss sich jeden englischen Satz im Kopf zurechtlegen. Alles ist fremd, der Drive-In-Schalter bei McDonald´s, das Essen im Auto, das Wasserbett in seinem Zimmer. Joachim Meyerhoff beschreibt all das in einer faszinierenden Mischung aus Distanz und innerer Nähe.

Der Ich-Erzähler war er selbst, allerdings vor 25 Jahren. "Amerika" ist der erste Teil eines ursprünglich für das Wiener Burgtheater entstanden Bühnenprojektes. Meyerhoff erinnert sich an wichtige Stationen seines Lebens, die hier zu Literatur werden. Denn es gehört zum Wesen einer Erinnerung, dass sie niemals objektive Realität spiegelt. Sondern eine Neuschöpfung ist. Der Erzähler trifft eine Reihe unvergesslicher Charaktere. Zum Beispiel einen Mann, der an der High School das Fach "Searching for Identity" – Identitätssuche –unterrichtet. Und gleich zu Beginn sagt, er sei kein Lehrer, er sei ein Coach, Coach Kaltenbach.

"Er war höchstens 1,60 groß, und seine Muskeln waren so bombastisch, dass er seine dickflüssigen, spermafarbenen Eiweißgetränke, die vor ihm auf dem Lehrerpult – oder richtiger Coachpult – standen, nur noch mit einem langen Strohhalm zu sich nehmen konnte. Weder mit Gläsern noch mit Löffeln erreichte er seinen Mund. In seinen Unterrichtsstunden lernte ich, Ytongplatten, auf die ich die Vornamen meiner Eltern geschrieben hatte, mit einem Fausthieb zu zerschmettern."

Meyerhoff erzählt anekdotisch, manche Figuren und Handlungsstränge kehren wieder, andere nicht. Eben das macht den Reiz seiner Geschichte aus. Sie wirkt nicht konstruiert, sondern authentisch, dem Fluss des Lebens abgeschaut. Meyerhoff spricht langsam, melodisch, oft eigentümlich stockend. Er macht viele Pausen. Das irritiert zuerst, doch man gewöhnt sich schnell daran. Die Lücken sind nicht zufällig, sie machen den Akt des Erinnerns deutlich, das Bruchstückhafte, den Versuch, ein möglichst klares Bild im Kopf zu konstruieren.

"Ich hielt ihren Po fest. Sie stank leicht nach diesem süßlichen Erdbeerschnaps, trieb mir auf den Schoß, saß auf mir, und wir küssten uns. Wir schliefen miteinander, und ich wusste nicht einmal, wie sie hieß."

Die Frau heißt Maureen. Bald nach dieser wilden Whirlpoolparty trifft der Erzähler sie wieder. Und es folgt eine pointierte Beschreibung amerikanischer Datingrituale, weiblicher Schminksitten und erotischen Begehrens. Oft steckt in den Formulierungen ein leises Schmunzeln, liebevolle Selbstironie.

Dann kommt – mitten im Hörbuch – ein abrupter Stimmungswechsel. In Deutschland stirbt ein Bruder in einem Autounfall. Der Erzähler reist zurück, wird aus der Welt gerissen, die er gerade angefangen hatte, zu erobern. Wenn Joachim Meyerhoff die Bühnenfassung spielt, liegt der Pullover seines Bruders in einer Vitrine unter Glas. Er bleibt den ganzen Abend über präsent. Das gelingt auch in der Hörbuchfassung, weil es immer wieder kurze Momente der Erinnerung gibt. Nach der Beerdigung fliegt der Erzähler wieder nach Laramie. Dort unternimmt er mit Coach Kaltenbach einen Ausflug ins Gefängnis. In der Todeszelle warten Gefangene auf ihre Hinrichtung. Einer spricht den Besucher an, auf deutsch.

"Der Gefangene rief mir hinterher: Schreib mir bitte! Bitte! Versprich mir, dass du schreibst. Auf deutsch! Ja? Schreib mir auf deutsch!"

Ob diese Geschichten nun alle wahr sind, ist unerheblich. Sie sind einfach großartig und erzählen vom Innenleben eines jungen Mannes, der in der Fremde erwachsen wird. Was der Titel "Alle Toten fliegen hoch" bedeutet, kommt im Hörbuch nicht vor. Joachim Meyerhoff hat es in Interviews erzählt. Eine Tante spielte mit ihm in der Kindheit eine Variante von "Alle Vögel fliegen hoch", damit er lernte, wer in seiner großen Familie noch lebte und wer schon tot war. Den Titel hat Meyerhoff nun für seine autobiografischen Texte gewählt, weil er sich an die Menschen erinnern will, die er liebte und die gestorben sind. Und es gelingt – Meyerhoff bringt alle zum Fliegen: die Lebenden, die Toten, die Vergangenheit und die Gegenwart.

Besprochen von Stefan Keim

Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch – Amerika
Gelesen von Joachim Meyerhoff
Random House Audio, München 2011
6 CDs, ca. 460 Minuten