Dem Diesseits zugewandt

Rezensiert von Thomas Kroll |
Kurt Marti ist ein Meister der Sprache, und er leitet er zum Nachdenken an – über den diesseitigen Gott und die Verantwortung der Menschen für die Welt. In seinem Buch "Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen" erweist sich der Berner Pfarrer und Lyriker einmal mehr als aufmerksamer wie skeptischer Zeitgenosse. Ende des Monats feiert Marti seinen 85. Geburtstag.
Am Anfang steht der Vokativ. Genauer: Am Beginn von Kurt Martis Buch findet sich ein kurzes Kapitel mit der Überschrift "Vokative". Das können Seufzer der Entzückung wie auch der Verzweiflung sein, rätselhafte Laute oder gar Anrufungen Gottes. Solches Stammeln, derlei Ausrufe sind für den Dichter Lebenszeichen, denn Tote - Marti erinnert an einschlägige Passagen beim Propheten Jesaja und in den Psalmen - rufen Gott nicht mehr an.

"Vokative sind Ausdruck einer emotionalen Reaktion ohne genau bestimmbare Absicht, eine Art dadaistische Verlautung, die sich in ihrer Spontaneität dem rationalen Denken entzieht oder vielmehr: ihm vorausgeht. Gott gegenüber sind und bleiben wir allzumal Dadaisten."

Das klingt bescheiden, mag tröstlich stimmen oder gar Mut machen – wie viele der anregenden Gedanken und teils provokanten Äußerungen, denen man auf weniger als 100 Seiten begegnet. Vokative – Beten – Amen – Atem, die kurzen Titel der ersten Kapitelchen gleichen einer Gebetsschnur. Sie nehmen den Leser Perle um Perle, hier Absatz um Absatz mit in die Gedankenwelt des Autors – hin zum Gott im Diesseits, dem ein gleichnamiges Kapitel gewidmet ist.

Die Überschriften der letzten Kapitel hingegen könnten einem Dogmatik-Lehrbuch entstammen: Reich Gottes – Passion – Apokalypse – Auferstehung. Doch wie alle, insgesamt 20 Themenfelder des Büchleins zeugen auch diese Passagen davon, dass Marti neue Perspektiven eröffnet und in der Lage ist, sich selbst in Frage zu stellen – dies wiederum so, dass es für andere inspirierend und befreiend wirken kann.

"Einen Atheisten kann ich nicht entdecken in mir, nicht einmal ein Atheistchen ... Ein Manko, ich weiß. Dafür aber lebt ein Heide in mir."

Diesem Heiden räumt Marti ein eigenes Kapitel ein. Der "ist nicht auf den Kopf gefallen", liest die Bibel mit Bedacht. Das hat Folgen, insbesondere für das Bedenken des Monotheismus. Diesen Begriff mag Martis inwendiger Heide gar nicht. War, ist Gott ein Single? Keineswegs. Denn der Heide in Kurt Marti fragt sich auf Grund des ersten Schöpfungsberichts, ob Gott nicht paarig sei, wenn er den Menschen nach seinem Bilde als Mann und Frau geschaffen habe.

Der rote Faden, der das Büchlein durchzieht, klingt im Titel bereits an. Immer wieder verweist Marti auf die Diesseitigkeit christlichen Glaubens, der am Alten Testament festhält "und damit an einem Glaubensdokument, das Gottes Diesseitigkeitsleidenschaft bezeugt und nicht, wie fast alle anderen Religionen, die Frage eines menschlichen Weiterlebens nach dem Tod zum Mittelpunkt hat". Im Ersten Testament spürt Marti Leidenschaft und Lebenskraft, weil dort – wie auch in Martis Reflexionen – sowohl Agape als auch Eros ein hoher Stellenwert zukommt.

"Zur hebräischen Bibel gehört das Hohelied, eine Sammlung erotischer Poesie. Leider hat keine Theologie versucht, die Zeugung und Empfängnis Jesu von diesen Texten her zu verstehen ... Auch der Heilige Geist wird von der erotisch-sexuellen Sphäre geflissentlich ferngehalten - wenigstens in der Theologie."

Es sind solche, mitunter verblüffende Anfragen, die Martis Buch lesenswert machen. So etwa die Einsicht, dass Jesus nichts, aber auch gar nichts "von jenem postmortalen Drüben verriet, das 'Jenseits' zu nennen wir uns angewöhnt haben". In Martis Augen hatte Jesus, der von den Toten erstanden ist, Dringlicheres zu bedenken und zu tun.

"Wohin auferstanden? Nicht in ein Jenseits, vielmehr zu seinen Jüngerinnen und Jüngern. Ihnen gab er Anweisungen für ihr weiteres Verhalten und Wirken und damit ihrem diesseitigen Leben eine neue Richtung."

Vor mehr als 20 Jahren hat Kurt Marti der Theologie den folgenden, immer wieder gern zitierten Satz ins Stammbuch geschrieben: "Vielleicht hält Gott sich einige Dichter (ich sage mit Bedacht: Dichter!), damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhanden gekommen ist." Dem kann man nur beipflichten. Vielleicht hat Gott im Diesseits auch an den Berner Pfarrer und Lyriker gedacht, der Ende Januar sein 85. Lebensjahr vollendet?


Kurt Marti: Gott im Diesseits. Versuche zu verstehen
Radius-Verlag, München, 2005
93 Seiten; 14 Euro