Dem deutschen Parlamentarismus geht es nicht gut
Das Parlament hat für die großen politischen Linien kaum mehr die Kraft, es verläuft sich im Kleinklein. Die Parteien und die Gesellschaft als Ganzes müssen dem Bundestag wieder zu mehr Glaubwürdigkeit und Ansehen verhelfen.
An einem späten Abend stimmt der Deutsche Bundestag einem Gesetz mit überaus fragwürdigen datenschutzrelevanten Bestimmungen zu – und muss am nächsten Tag zurückrudern. Das sichtbare Prozedere selbst wird als loriothafte Kabarettszene durch die Medien gereicht, eines Parlaments unwürdig und so peinlich, dass sich der Parlamentspräsident gezwungen sieht, selbst in die Talkshow zu gehen, was ihm mächtig gegen den Strich gegangen sein dürfte.
Jahrelang hat der Bundestag Zeit, ein für verfassungswidrig befundenes Wahlrecht zu korrigieren, und er liefert eine Version ab, die gleich wieder vom Verfassungsgericht kassiert wird. Peinlicher geht es nicht mehr. Eine derart schlechte Presse hat der Deutsche Bundestag wohl noch nie gehabt.
In seiner auch heute noch lesenswerten Streitschrift mit dem Titel "Wohin treibt die Bundesrepublik?" hat der renommierte Philosoph Karl Jaspers 1965 die gelebte politische Wirklichkeit der Bundesrepublik einer radikalen Kritik unterzogen. Zur parlamentarischen Praxis finden sich darin – anknüpfend an Max Weber – alle gängigen Kritikpunkte: Von der staatlichen Alimentierung der Parteien über die Personalrekrutierung der politischen Eliten bis zu der widersprüchlichen Doppelrolle des Bundestags, der gleichzeitig Mehrheitsbeschaffer und Kontrolleur der Regierung sein soll. Wenn also heute der Parlamentarismus in Deutschland kritisiert wird, sollte immer in Rechnung gestellt werden, dass es diese Kritik schon seit Jahrzehnten gibt, und dass man sich natürlich alles noch idealer, schöner und vollkommener vorstellen kann. Aber auch im Parlament arbeiten nur Menschen.
Und doch scheint diese Kritik heute berechtigter zu sein als jemals zuvor. Selten ist die Differenz zwischen der gedachten Stellung und der tatsächlichen Rolle des Bundestags größer gewesen als in diesen Wochen und Monaten.
Wir haben ein Parlament, das für die großen politischen Linien kaum mehr die Kraft hat, das sich stattdessen im Kleinklein verläuft; ein Parlament, das in Große Koalition macht, wo alternative Entwürfe gefordert wären. Und das eine überzeugende und gemeinsame Haltung nicht hinbekommt, wo sie zwingend geboten wäre: nicht einmal in der existentiellen Frage, wie es selbst mit einer unantastbaren Legitimität zustande kommt. Und in der Finanzkrise können die Abgeordneten regelmäßig nichts anfangen mit der Macht gegenüber der Regierung, die sie sich nicht erkämpft, sondern vom Bundesverfassungsgericht zugewiesen bekommen haben. Die Schuldenkrise in Europa hat ihre eigene Logik und erzeugt ihre eigenen Gesetze. Der Bundestag scheint wie die ganze Gesellschaft überfordert durch Komplexität und Beschleunigung.
Es hat sich offenkundig etwas verschoben in der Tektonik der Verfassung – zu Lasten des Bundestages. Auf der einen Seite das Verfassungsgericht, das inzwischen anmutet wie eine nicht gewählte dritte Kammer der Legislative; ein Vormund des Parlaments, meistens gutmeinend, aber auch mal autoritär wie jetzt in der Wahlrechtsfrage. Wieso sind gerade 15 Überhangsmandate noch verfassungskonform, aber 16 nicht mehr? Es folgt wohl einer Einsicht in das sowieso nicht Veränderbare, dass Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, gerade in diesen Tagen eine Wahl der Verfassungsrichter durch das gesamte Parlament ins Gespräch gebracht hat. Ein bisschen mehr demokratische Legitimation wäre bei dieser Machtstellung schon nicht schlecht.
Die Parteien wie die Gesellschaft als Ganzes müssen sich überlegen, wie sie dem Parlament wieder zu mehr Ansehen und damit zu mehr Glaubwürdigkeit und Vertrauen verhelfen. Der erste Rat ist banal und gilt für alle komplexen Systeme: weniger Entscheidungen, dafür bessere. In Zeiten der Finanzkrise sicher leicht gesagt. Aber es lohnt sich auch hier, noch einmal bei Karl Jaspers nachzuschlagen, der damals schon, also 1965, vor einem Staatsbankrott gewarnt hat:
"Eine Finanzreform müsste so tief greifen und so radikal sein, dass sie es der Regierung unmöglich macht, über ihre Verhältnisse zu leben. Nur eine starke Regierung und ein verantwortliches Parlament, die das Wagnis der zweifellosen Unpopularität auf sich nehmen im Interesse aller und des Ganzen, vermöchte eine solche Reform durchzuführen."
Kann man es besser sagen?
Jahrelang hat der Bundestag Zeit, ein für verfassungswidrig befundenes Wahlrecht zu korrigieren, und er liefert eine Version ab, die gleich wieder vom Verfassungsgericht kassiert wird. Peinlicher geht es nicht mehr. Eine derart schlechte Presse hat der Deutsche Bundestag wohl noch nie gehabt.
In seiner auch heute noch lesenswerten Streitschrift mit dem Titel "Wohin treibt die Bundesrepublik?" hat der renommierte Philosoph Karl Jaspers 1965 die gelebte politische Wirklichkeit der Bundesrepublik einer radikalen Kritik unterzogen. Zur parlamentarischen Praxis finden sich darin – anknüpfend an Max Weber – alle gängigen Kritikpunkte: Von der staatlichen Alimentierung der Parteien über die Personalrekrutierung der politischen Eliten bis zu der widersprüchlichen Doppelrolle des Bundestags, der gleichzeitig Mehrheitsbeschaffer und Kontrolleur der Regierung sein soll. Wenn also heute der Parlamentarismus in Deutschland kritisiert wird, sollte immer in Rechnung gestellt werden, dass es diese Kritik schon seit Jahrzehnten gibt, und dass man sich natürlich alles noch idealer, schöner und vollkommener vorstellen kann. Aber auch im Parlament arbeiten nur Menschen.
Und doch scheint diese Kritik heute berechtigter zu sein als jemals zuvor. Selten ist die Differenz zwischen der gedachten Stellung und der tatsächlichen Rolle des Bundestags größer gewesen als in diesen Wochen und Monaten.
Wir haben ein Parlament, das für die großen politischen Linien kaum mehr die Kraft hat, das sich stattdessen im Kleinklein verläuft; ein Parlament, das in Große Koalition macht, wo alternative Entwürfe gefordert wären. Und das eine überzeugende und gemeinsame Haltung nicht hinbekommt, wo sie zwingend geboten wäre: nicht einmal in der existentiellen Frage, wie es selbst mit einer unantastbaren Legitimität zustande kommt. Und in der Finanzkrise können die Abgeordneten regelmäßig nichts anfangen mit der Macht gegenüber der Regierung, die sie sich nicht erkämpft, sondern vom Bundesverfassungsgericht zugewiesen bekommen haben. Die Schuldenkrise in Europa hat ihre eigene Logik und erzeugt ihre eigenen Gesetze. Der Bundestag scheint wie die ganze Gesellschaft überfordert durch Komplexität und Beschleunigung.
Es hat sich offenkundig etwas verschoben in der Tektonik der Verfassung – zu Lasten des Bundestages. Auf der einen Seite das Verfassungsgericht, das inzwischen anmutet wie eine nicht gewählte dritte Kammer der Legislative; ein Vormund des Parlaments, meistens gutmeinend, aber auch mal autoritär wie jetzt in der Wahlrechtsfrage. Wieso sind gerade 15 Überhangsmandate noch verfassungskonform, aber 16 nicht mehr? Es folgt wohl einer Einsicht in das sowieso nicht Veränderbare, dass Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, gerade in diesen Tagen eine Wahl der Verfassungsrichter durch das gesamte Parlament ins Gespräch gebracht hat. Ein bisschen mehr demokratische Legitimation wäre bei dieser Machtstellung schon nicht schlecht.
Die Parteien wie die Gesellschaft als Ganzes müssen sich überlegen, wie sie dem Parlament wieder zu mehr Ansehen und damit zu mehr Glaubwürdigkeit und Vertrauen verhelfen. Der erste Rat ist banal und gilt für alle komplexen Systeme: weniger Entscheidungen, dafür bessere. In Zeiten der Finanzkrise sicher leicht gesagt. Aber es lohnt sich auch hier, noch einmal bei Karl Jaspers nachzuschlagen, der damals schon, also 1965, vor einem Staatsbankrott gewarnt hat:
"Eine Finanzreform müsste so tief greifen und so radikal sein, dass sie es der Regierung unmöglich macht, über ihre Verhältnisse zu leben. Nur eine starke Regierung und ein verantwortliches Parlament, die das Wagnis der zweifellosen Unpopularität auf sich nehmen im Interesse aller und des Ganzen, vermöchte eine solche Reform durchzuführen."
Kann man es besser sagen?