Delta-Variante in Indien

Die Angst vor der dritten Welle

23:16 Minuten
Eine medizinische Fachkraft in Schutzkleidung nimmt an einer Person einen Coronatest vor.
Die Delta-Variante des Coronavirus stammt aus Indien und ist immer dominierender in der Welt. Es gibt gute Gründe, die Bevölkerung Indiens deshalb aber nicht zu stigmatisieren. © picture alliance / Zuma Wire / David Talukdar
Peter Hornung im Gespräch mit Isabella Kolar · 23.06.2021
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Im Mai gingen dramatische Bilder aus Indien um die Welt. Mittlerweile hat sich die Lage entspannt: Die Infiziertenzahlen sinken. Doch die Lockerungen könnten angesichts der dominierenden Delta-Variante zu einer dritten Coronawelle führen.
Im Zusammenhang mit der Delta-Variante wird immer betont, dass sie aus Indien kommt. Dort haben sich knapp 30 Millionen Menschen infiziert, 388.000 von ihnen sind gestorben.
Unser Korrespondent in Neu-Delhi, Peter Hornung, betont, dass ungeklärt sei, an was für einer Variante die Menschen in Indien gestorben seien. Denn dort sei lange Zeit nur sehr wenig sequenziert - also die Genom-Struktur des Virus analysiert - worden.

Dies sei jetzt anders, sodass man im Moment sicher feststellen könne, dass die Delta-Variante in Indien das vorherrschende Coronavirus sei. Man sequenziere jetzt viel mehr als noch Anfang Mai. Diese Variante sei leichter übertragbar, also infektiöser, so Hornung. Auch scheine in diesem Fall die Wirksamkeit der Impfstoffe etwas reduziert.

Alle haben so getan, als sei die Pandemie überwunden

Die Tatsache, dass in Indien so viele Menschen krank wurden, habe auch damit zu tun, dass Bevölkerung und Regierung so getan hätten, als sei die Pandemie überwunden. Zu Superspreader-Events seien zum Beispiel Hochzeiten geworden, die bis weit in den Lockdown hinein erlaubt gewesen seien, oder das Kumbh-Mela, das rituelle Bad im Ganges.
In der Folge brach das Gesundheitssystem des Landes fast zusammen. Vor den Türen der Notaufnahmen erstickten die Menschen, es mangelte an Sauerstoff für die Kranken. Die Krematorien kamen mit dem Einäschern der Leichname nicht hinterher.
Das Foto zeigt Arbeiter in Schutzanzügen und Familienmitglieder, die in Neu-Delhi am 1. Mai 2021 einen Leichnam zur Einäscherung inmitten mehrerer Scheiterhaufen auf ein Gelände tragen, das in ein Krematorium für Masseneinäscherungen umgewandelt wurde.
Bilder, die im Mai um die Welt gingen. Arbeiter und Familienmitglieder tragen einen Leichnam auf ein Gelände, das in ein Krematorium für Masseneinäscherungen umgewandelt wurde.© imago / UPI Photo / Abhishek
Doch jetzt habe sich die Situation auch in den Krankenhäusern im Vergleich zu vor sechs Wochen deutlich verbessert, sagt Peter Hornung. Es gebe wieder medizinischen Sauerstoff sowie freie Intensivbetten:
"Genauso schnell, wie die Kurve nach oben gegangen ist, ist sie auch wieder nach unten gegangen. Wir sind jetzt bei der Zahl der Neuansteckungen auf dem Stand von Ende März."

Es könnte bald eine dritte Welle kommen

Doch im Griff habe man die Delta-Variante noch lange nicht. Im Gegenteil:
"Es gibt hier wirklich Befürchtungen, dass bald schon tatsächlich eine dritte Welle kommen könnte, weil es jetzt auch indienweit zu Lockerungen kommt. Hier in Delhi zum Beispiel ist der Lockdown seit dieser Woche praktisch vorbei. Es gab schon in den letzten zwei, drei Wochen Lockerungen und jetzt ist ganz Schluss."
Es sei der strikte Lockdown gewesen, der zum schnellen Absinken der Infektionszahlen geführt habe, so Hornung: Der sei am 20. April verhängt und tatsächlich auch sechs Wochen lang durchgehalten worden. Das sei der wichtigste Faktor gewesen. Dazu seien die Genesenen gekommen, die einige Monate lang geschützt seien sowie die Impfungen.

Acht Millionen Menschen an einem Tag geimpft

Doch leider sei die Impfkampagne ins Stocken geraten in den letzten Wochen. Stand jetzt seien 3,6 Prozent der Inder und Inderinnen zwei Mal geimpft und gut 16 Prozent einmal. Peter Hornung:
"Inzwischen kann sich theoretisch jeder über 18 impfen lassen, und zwar kostenlos, aber das ist tatsächlich vielerorts nur eine theoretische Möglichkeit. Es fehlt einfach an Impfstoff. Das ist so etwas wie der wunde Punkt in Indien.
Um wirklich auf Bevölkerungsebene einen Schutz gegen das Virus zu haben, braucht es viel mehr Geimpfte. Die letzten Tage ging es jetzt wohl wieder etwas schneller. Gerade gestern gab es die große Nachricht, dass acht Millionen Menschen an einem Tag geimpft wurden, trotzdem ist es auf jeden Fall noch ein langer Weg."
Eine medizinische Fachkraft im indischen Kolkata mit Coronaimpfstoff.
Wegen Impfstoffmangels sind erst 3,6 Prozent der Inder und Inderinnen zwei Mal geimpft und 16 Prozent ein Mal.© imago images / NurPhoto / Indranil Aditya
Der Grund für den Impfstoffmangel ausgerechnet beim größten Impfstoffhersteller der Welt sei, so Hornung, dass Indien im Rahmen der UN-Initiative Covax sehr viel Impfstoff für ärmere Länder produziert und exportiert habe. Für Länder also, die keinen eigenen Impfstoff produzieren können. Das sei auch politisch gewollt gewesen. Indien sehe sich gerne als Wohltäter: ein mächtiges Land, das anderen helfe.

"Man hat die Pandemie unterschätzt"

Aber: man habe die Pandemie unterschätzt. Erst als man Ende März gesehen habe, dass die Corona-Zahlen hochgegangen waren, habe es einen Exportstopp für den Impfstoff gegeben.
Im Anschluss habe man die Impfkampagne schlagartig erweitert – erst wurden nur die über 45-Jährigen, dann ab dem 1. Mai auch die über 18-Jährigen geimpft – sodass man wieder unter Druck geraten sei durch den Mangel an Impfstoff. Erst jetzt komme das Impfen richtig in Gang.
Ein Mann mit schwarzen Hemd steht in einem Flur.
"Ganz nahe dran zu sein, ist das Wichtigste" - so lautet das Motto von Peter Hornung, der seit dem 1. April Korrespondent und Leiter des ARD-Studios Neu-Delhi ist.© NDR Hamburg
Der indische Premier Narendra Modi, der während des Höhepunktes des Corona-Dramas in seinem Land komplett abgetaucht war, habe sich jetzt an die Spitze der Corona-Bekämpfer gestellt. Peter Hornung:
"Da ist er sehr aktiv, er macht monatliche Fernsehansprachen. Da geht es zunächst immer um Corona. Er mahnt, er appelliert. Die Leute sollen sich an die Corona-Maßnahmen halten. Sie sollen sich impfen lassen. Er nutzt das auch jetzt, um sich gegenüber dem Bundesstaat zu profilieren. Das ist so eine Art Blame-Game. So ein gegenseitiges Zuschieben der Schuld.
Es geht einfach tatsächlich darum, politische Fehler der vergangenen Monate zu kaschieren. Aber das auszusprechen ist im Moment in Indien nicht sehr populär."

Kein Land soll mit einem Virus stigmatisiert werden

Von der Delta-Variante des Coronavirus betroffen ist nicht nur Indiens Nachbar Nepal, wohin die während des indischen Lockdowns im April zurückkehrenden Wanderarbeiter und -arbeiterinnen das Virus einschleppten.
Auch Länder wie Großbritannien, Portugal, Russland und Australien kämpfen derzeit damit. Für den Herbst in Deutschland prognostiziert der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, eine "ganz dominierende Rolle der Delta-Variante".

Südasien-Korrespondent Peter Hornung glaubt, dass der weltweit ständig wiederholte Verweis darauf, dass die Delta-Variante aus Indien kommt, für das Land ein Imageproblem darstellt. Allerdings habe man sich – mit Unterstützung der WHO – darum bemüht, mit der Bezeichnung "Delta-Variante" – im Austausch gegen den früheren Begriff der "indischen Doppelmutante" – das Land nicht weiter zu stigmatisieren. Auch der Begriff der "Nepal-Variante" werde nicht mehr verwendet.
Menschen in der indischen Stadt Nagaon warten auf ihre Impfung gegen Covid-19.
Theoretisch können sich alle Menschen ab 18 Jahren in Indien impfen lassen, aber auch dort gibt es zu wenig Impfstoff, obwohl das Land selbst welchen produziert. © picture alliance / dpa / NurPhoto / Anuwar Hazarik
Denn es sei sachlich überhaupt nicht begründet, solche geografischen Bezeichnungen für Viren zu benutzen.
(ik)
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