Clare Pollard: "Delphi"

Verspielte Pandemieprosa

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Das Cover des Romans von Clare Pollard, "Delphi". Es zeigt nebem dem Namen der Autorin und dem Titel ein Gemälde einer Frau, die auf einem Stuhl sitzt. Sie trägt ein oben freizügiges, wallendes, helles Gewand.
© Aufbau

Clare Pollard

Übersetzt von Anke Caroline Burger

Clare Pollard: DelphiAufbau, Berlin 2023

222 Seiten

22,00 Euro

Von Meike Feßmann · 02.02.2023
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London im Chaos des ersten Pandemiejahres. Zwischen Zoom-Konferenzen und Homeschooling sucht die Erzählerin Halt in der griechischen Mythologie und allerlei Methoden der Weissagung. Clare Pollards Roman "Delphi" ist klug und komisch.
Die Götter mögen uns Weisheit schenken – oder wenigstens ein paar Tipps, wie man mit all den Unwägbarkeiten umgehen soll, die täglich auf uns einstürmen. Als die Britin Clare Pollard „Delphi“ schrieb, ging es „nur“ um die ersten Wellen der Covid-Pandemie. Den russischen Überfall auf die Ukraine, der die halbe Welt in Mitleidenschaft zieht, ahnten nicht einmal Spezialisten.
Clare Pollard, Jahrgang 1978, galt einmal als das „bad girl“ unter den jungen britischen Poetinnen und Poeten. Sie hat in Cambridge studiert, fünf Gedichtbände publiziert, sie schreibt Theaterstücke, übersetzte Ovid und ist Herausgeberin der einst von Ted Hughes mitgegründeten Zeitschrift „Modern Poetry in Translation“.
„Delphi“ ist ihr erster Roman und ein brillantes Spektakel genre-fluiden Erzählens rund um eine dreiköpfige Familie mitten im Strudel von „Scheiß 2020“.

Mit kleinen Mitteln Orkane auslösen

„Ich habe die Nase voll von der Zukunft“, proklamiert die namenlose Ich-Erzählerin gleich zu Beginn des Romans. „Unglaublicherweise“ findet sie sich in der Küche wieder, wo sie ihrem Mann entnervt ins Gesicht zischt: „Ich weiß nicht mal, ob unser Sohn überhaupt lang genug lebt, um erwachsen zu werden.“
Dabei ist Jason, ihr Mann, ein ziemlich gutmütiger Kerl. Als sie sich beim Studium in Oxford kennenlernten, war er sogar richtig attraktiv. Er versucht den Ball flach zu halten, wenn sie sich aufregt und aufreibt, zwischen Zoom-Konferenzen am Küchentisch, Homeschooling und den kläglichen Versuchen, den zehnjährigen Xander vom Gamen wegzubekommen, um eine Runde im Park mit ihm zu drehen.
Zu allen sonstigen Schrecknissen leidet Xander an Allergien, Ekzemen und Asthma. Manchmal hört sie ihn „Alexa, spiel 'Happy'“ in seinem Zimmer sagen. Clare Pollard beherrscht die dramaturgischen Kniffe, um mit kleinen Mitteln ganze Stimmungsorkane auszulösen.

"Der andere doofe Blonde"

Ihre Erzählerin unterrichtet an der Uni Klassische Philologie. Sie rechnet sich selbst zum „hochqualifizierten Prekariat“, weiß aber, dass sie mit Haus und Garten zur Mittelschicht gehören.
Sie nimmt alles, was sie kriegen kann, um sich während der Pandemie zu stabilisieren: Sie legt Tarotkarten, liest Horoskope, konsultiert wider besseres Wissen eine Wahrsagerin. Nachdem der Griechenland-Urlaub mitsamt der Besichtigung des für sein Orakel bekannten Delphi ausfällt, erkundet sie Kapitel für Kapitel alle möglichen Formen der Weissagung. Etwa die „Brontomantie: Weissagung aus dem Donner“; oder die „Chresmomantie“, unter der sie die „Weissagung aus den irren Worten wahnsinniger Männer“ versteht, wie das kürzeste Kapitel heißt, in dem es um Trump geht. Als „der andere doofe Blonde“ hat auch Boris Johnson seinen Auftritt.

Isolationsbedingungen der Pandemie

Mit unglaublichem Witz und oszillierendem Furor verbindet Clare Pollard die Beobachtung, dass unser „gesamtes Leben ins Internet“ abgewandert ist, mit der griechischen Mythologie.
Aus der Einheit des Ortes als Merkmal der Tragödie schließt sie kühn, dass unter den Isolationsbedingungen der Pandemie „jede Familie ihre eigene kleine Tragödie“ erlebt.
Anders als etwa Kerstin Preiwuß in „Heute ist mitten in der Nacht“ wählt sie nicht die Form des autobiografischen Essays, um von der Angst zu erzählen. Ihre Ich-Erzählerin lebt wie sie selbst mit ihrer Familie in Süd-London. Sie nutzt die Form des Romans, um die Zügel schießen zu lassen: für ein großartig verspieltes Stück Pandemieprosa. 
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