Delirium der Erinnerung

Von Michael Laages · 04.06.2011
Fünf Personen versammeln sich auf der Bühne und begeben sich auf die Suche nach einer fiktiven Erinnerung: Das Stück "Gedächtnisambulanz" des Dramatikers Tom Peuckert befasst sich mit dem Thema Alzheimer.
Fast jede Uni-Stadt hat ein Theater, fast jede Bühne hat eine Uni nebendran – aber selten finden mehr oder minder populärwissenschaftliche Themen derart entspannt den Weg in den Spielplan wie in Bielefeld. Spezialist für die Begegnungen der geistigen Räume ist der Dramatiker Tom Peuckert, er lieferte dem Bielefelder Theater unter anderem schon eine kleine szenische Fantasie über den lokal-universitären Haus-Heiligen Niklas Luhmann. Jetzt folgt mit "Gedächtnisambulanz” ein Stück, das die real existierende medizinisch-psychologische Betreuungsinstitution der Bielefelder Wissenschaftler um den Gedächtnisforscher Hans Markowitsch als Quelle der Inspiration genutzt hat. Die "Gedächtnisambulanz”, einen Ort für Analyse und Behandlung von Störungen im Gedächtnisapparat, gibt es inzwischen in mehreren Städten, aber im Anfang war Bielefeld – und Peuckert liefert den szenischen Flickenteppich dazu.

Fünf Personen versammelt er auf der Bühne, gemeinsam mit dem Schlagzeuger Patrick Schimanski, der den Abend rhythmisch strukturiert und inszeniert hat, begeben sie sich auf Spuren fiktiver Erinnerung. Einer ist der ewige Ossi, schwärmt auch in Nachwendezeiten von Döbelner Würstchen wie vom ersten Ostseeurlaub ehedem im alten Osten, der fast gescheitert wäre, weil Vatern die für's FDGB-Erholungsheim unverzichtbaren Hausschuhe zu Hause vergessen hatte und erst Muttern Ersatz fand am Urlaubsort.

Ein anderer memoriert ein Abenteuer aus der eigenen Kindheit – bis auch Nicht-Kenner des Werkes von Erich Kästner bemerken, dass er sich all das aus dem Jugendbuchklassiker um "Emil und die Detektive” zusammenfantasiert. Dann ist da das Paar mit Kind, das ein paar entscheidende und teils traumatische Weggabelungen der eigenen Beziehungsgeschichte beschwört – am Ende warf sich die Frau bei Spandau auf die Schienen. Opa erzählt vom Krieg, und die Jungen von heute messen diese Erlebnisse an eigenen Fragen nach Feigheit und Heldentum – Erinnerung als Orientierung und Maßstab, das Gedächtnis als Ort von Wahrheit und Verschleierung: diese Themen diskutiert Peuckert in leicht hingeworfenen Szenen; fragmentarisch, aber kompakt.

Manchmal ist die kleine Gedächtnis-Revue sogar ziemlich komisch – vielleicht sogar ein bisschen zu heiter, in Anbetracht der schrecklichen Präsenz des fortschreitenden und schließlich totalen Gedächtnisverlustes im Verlauf der Alzheimer-Krankeit. Die ist hier nur Material für ein Witzchen unter Doktoren - aber immerhin sitzt Therese Berger, die Doyenne im Bielefelder Ensemble, überwiegend strickend am Rande der Szene; ihr kommt die Rolle des "Vergessens” zu.

Ab und zu setzen sich die Ensemble-Mitglieder Fischköpfe aufs Haupt und schwimmen wimmelnd durch die Ganglien, sie essen "Engelsaugen” wie Marcel Prousts Madeleinetten und trinken Erinnerungstee dazu, zuweilen greifen sie auch zu betagten Perlen der Pop-Geschichte, deren Texte wie im Erinnerungsdelirium (oder ersatzweise unter Drogen) entstanden zu sein scheinen. "A whiter shade of Pale” ist ein besonders schönes Beispiel für derlei Text-Deliranz. Schimanski gibt vom Schlagzeug aus den Spielmeister, mit kleinen Ansagen und effektsicheren Trommel-Markierungen, Oliver Baierl und Thomas Wolff, Stefan Imholz und Omar El-Saeidi sind neben Therese Berger die Patienten dieser "Gedächtnisambulanz”. Am Schluss erinnern sie sich von sehr viel später im Leben aus an diesen Premierenabend, und daran, dass es doch eigentlich sie, die Schauspieler, waren, die dem Autor dieses ganze Spiel-Konstrukt eingeredet haben. Derweil fügen sich die "Memory”-Bilder mehr und mehr zueinander, die Fabian Siepelmeyer auf dem Bühnenboden ausgelegt hat.

Einen klugen, kleinen Abend über Erinnerung und Gedächtnis haben Peuckert, Schimanski und das Bielefelder Team erarbeitet – als Entree für intensivere Beschäftigung mit Erinnerung und Vergessen.