Delikatesse oder Plage

Ratten in der Fertigsuppe

Ratten fressen Abfälle.
Auf Dauer begnügen sich die Nager nicht mit unseren Resten. Udo Pollmer befürchtet Schlimmes. © picture alliance / dpa / Kirsty Wigglesworth
Von Udo Pollmer · 02.06.2017
In Deutschland sind sie nicht gerade gern gesehene Gäste in der Küche, andernorts gelten sie als Gaumenschmaus: Ratten. Gerät dennoch mal ein Nager an oder gar in unsere Nahrung, könnte das an der tierfreundlichen Gesetzgebung liegen, sagt Udo Pollmer.
"Ratten müssen um ihr Leben bangen", ruft aufgeregt eine Schlagzeile – gerade so als ob die Nager gern gesehene Gäste in Küche und Keller wären, die nun von gefühllosen Zeitgenossen vom Diesseits in die ewigen Kanalgründe befördert werden.
Anlass für den Aufschrei unserer Medien ist ein ambitioniertes Naturschutzprojekt – am anderen Ende des Globus. In Neuseeland sollen bis zum Jahre 2050 alle Ratten ausgerottet sein. Sie ruinieren das einzigartige Ökosystem – indem sie ihrerseits einheimische Arten ausrotten, sogar das Wappentier Neuseelands, der Kiwi, ist durch die eingeschleppten Nager vom Aussterben bedroht.
In einigen Ländern gelten Ratten als Hauswild, das gegrillt oder als Ragout genossen wird. In Westafrika sind Ratten so beliebt, dass ein Schweizer Konzern diese als Fertigsuppe auf den Markt brachte. Als 2011 ein Hochwasser in Kambodscha erhebliche Schäden anrichtete, beklagte der Ministerpräsident den stockenden Fleischexport nach Vietnam. Die Rattenpopulation war ersoffen.

Ein Leben in Saus und Braus

Ganz anders die Lage in der deutschen Hauptstadt Berlin: Dort leben die Ratten in Saus und Braus. Wenn auf Liegewiesen oder Kinderspielplätzen Picknickreste herumliegen, dann lassen sich die Nager nicht lange bitten. Zum Dank verbreiten sie über ihre Hinterlassenschaften gefährliche Keime – per Schmierinfektion. Gefährdet sind vor allem Bürger, die in der Nähe eines Krankenhauses leben. Dort beherbergen die Nager nicht nur die Erreger aus dem Klinikabwasser, die gewiss vielfältiger sind als die eines Wohngebietes. Die Keime sind zudem viel häufiger multiresistent, dank der Antibiotika. So das Ergebnis einer Untersuchung aus Berlins Unterwelt.
Essbares findet sich überall, weil achtlos weggeworfen, und Papierkörbe quellen über. Die selektive Leerung übernehmen dann die Ratten. Futter steckt in gelben Säcken, Speisereste werden einfach in die Toilette gekippt: Das Schwemmgut macht die Tiere satt und fruchtbar. Um an die Quelle zu gelangen, krabbeln sie mittlerweile durch die Toiletten in die Wohnungen. Irgendwohin müssen die vielen Wanderratten aus der überbevölkerten Kanalisation ja auswandern.

Ratten-Gönner in der Verwaltung?

Schädlingsbekämpfer machen für die rasante Zunahme des Befalls die Gesetzgebung verantwortlich. Diese wurde aus Gründen des Tierschutzes so verschärft, dass Rattengift nicht mehr an Privatpersonen verkauft werden darf. Die Bekämpfer beklagen, dass auch ihre Arbeit massiv behindert würde. So gelte in Berlin eine veraltete Liste mit zulässigen Bekämpfungsverfahren. Haben die Ratten etwa Gönner in der Verwaltung? Die unkontrollierte Massentierhaltung im Untergrund garantiert Seuchen eine schnelle Verbreitung, die Bevölkerung ist ihnen dann hilflos ausgeliefert.
Fieberhaft suchen Fachleute nach neuen Strategien. Inzwischen installieren sie mobile Selbstschuss-Anlagen in der Kanalisation, die vorbeihuschende Ratten mit niedersausenden Bolzen auf einen Schlag töten. Bis zu 100 Exemplare wurden mit einem solchen Gerät schon in einer Nacht aus dem unterirdischen Verkehr gezogen.

"Immer sind die Tiere schuld"

Egal ob Selbstschussanlage oder Giftköder, wenn Rattenjäger tätig werden, werden auch Tierschützer aktiv: "Auch Menschen können Krankheiten übertragen", klagen junge Menschen an, "immer sind die Tiere schuld, das ist echt traurig". Wehe diese empfindsamen Seelchen erblicken in ihrer Kloschüssel eine fette Ratte, die sie aus süßen Knopfäuglein anstarrt. Sobald diese Maulhelden auf ein Mäuseschwänzchen in ihrem Müsli beißen, stellen sie ein Foto von ihrem traumatischen Erlebnis ins Netz und eine Welle von Empörung über skrupellose Lebensmittelpanscher schwappt durch die Chatrooms.
Da die Nager sich auf Dauer nicht mit Essensresten begnügen können, um ihr schnell wachsendes Millionenheer zu nähren, werden sie wohl immer öfter auch dort vorstellig, wo Lebensmittel erzeugt, verarbeitet und gelagert werden. Dann ist’s vorbei mit der Affenliebe zum Schadnager, sonst sehen sich die Berliner eines schönen Tages noch genötigt, ihr Hauswild eigenhändig zu erlegen, damit auch sie genug zu beißen haben. Mahlzeit!
Literatur:
Sack B: Tierschützer gegen Hightech-Falle für Nager. Bild-Online 21.10.2016
Deggerich M: Rattenplage in Berlin: Gefährliche Nager. Spiegel Online 6. Okt. 2013
Anon: Ratten müssen um ihr Leben bangen. Deutschlandfunk 14. Mai 2017
Anon: Wachsende Rattenpopulationen machen Städten u schaffen. Fakt, Sendung Fakt vom 13. Dez. 2016
Schwarz F: Nestle – Macht durch Nahrung. DVA, Stuttgart 2000
Günther S et al: Fecal carriage of Extended-spectrum beta-lactamase-producing E. coli in urban rats, a risk for public health? Antimicrobial Agents & Chemotherapy 2013; 57: 2424-2425
Anon: Kambodschanischer Exportschlager: Flut sorgt für Ratten-Emgpass. N-tv Panorama 2. Nov. 2011
LAVES, Niedersächsisches Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit: Ratten als Krankheitsüberträger. http://www.laves.niedersachsen.de/tiere/schaedlingsbekaempfung/aktuell/artikel_zum_thema_ratten/ratten-als-krankheitsuebertraeger-73203.html
Barnett SA: The Story of Rats. Allan & Unwin, Crows Nest (NSW) 2001
Winkle S: Kulturgeschichte der Seuchen. Artemis & Winkler, Düsseldorf 1997
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