Dekadente Eltern und umherirrende Kinder

26.08.2013
Die Schriftstellerin Helene Hegemann hat ihren zweiten Roman vorgelegt. "Jage zwei Tiger" ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden und der Generation zwischen 14 und 40. Der bringt die Autorin vor allem Wut und Zorn entgegen - und stellt das auch gnadenlos dar.
Als 2010 das Debüt der damals 17-jährigen Helene Hegemann "Axolotl Roadkill" erschien und Plagiatsvorwürfe laut wurden, war sie das Skandalgirl der Saison. Es kursierten die absurdesten Gerüchte. Von "alles abgeschrieben" bis zu dem Vorwurf, der Vater, Dramaturg Carl Hegemann, habe das Buch verfasst.

Das Debüt löste eine Debatte über Schreiben in Zeiten von "copy & paste" aus. Jetzt, mit 21, legt Helene Hegemann ihren neuen Roman "Jage zwei Tiger" vor. Als ironische Anspielung an den Plagiatsvorwurf sind Quellen penibel aufgeführt. Um einen "Roadkill" geht es in diesem Buch, das zwischen heute und 2016 spielt, auch diesmal.

Gelangweilte Jugendliche, unter ihnen das einarmige Zirkusmädchen Samantha, haben einen Stein von einer Autobahnbrücke geworfen. Binky war sofort tot, ihr elfjähriger Sohn Kai überlebte, geistert in Schmerztrance durch die Gegend und strandet bei einem Zirkus.

Dort trifft er auf Samantha und wacht im Krankenhaus wieder auf. An seinem Bett sitzt Detlev, Kais ziemlich unbekannter Vater, und die Irrfahrt einer Beziehung beginnt.

Helene Hegemann erzählt eine Geschichte von Vater und Sohn, erzählt von Samantha, in die Kai sich verliebt hat, von der Luxusmutter Gloria und ihrer 17-jährigen Tochter Cecile, die bei Kais Vater als dessen Geliebte einziehen wird. Sie erzählt von Wohlstandverwahrlosung und von Ignoranz, von dem dekadenten, von moralischer Norm freiem Leben reicher Eltern, von Kunstgequatsche, Kokain und Alkoholproblemen, also von modischen Zuständen auf der Kippe.

Alles ist grell ausgeleuchtet, Musik, Filme, Bücher werden zitiert. "Schweißtreibende Gewaltphantasien" durchziehen den Sound einer auch sprachlich durch amerikanische Filme sozialisierten Generation, die sich an nichts festhalten kann, außer an Filmbildern und am Geld der Eltern. Allerdings durchkreuzt von so altmodischen Sachen wie Verliebtsein und der Frage der Entjungferung.

Aber das freie Leben zeigt sich als zynisch riskanter Parcours. Während die Erwachsenen mehr oder weniger verloren in ihrem Setting festhängen und Affären haben wie am Fließband, zeigt Helene Hegemann in ihrem "Sittenbild" auch die dahinter versteckte romantische Sehnsucht der Jugendlichen nach scheinbar vergangenen Lebensformen.

"Wohlfühlquatsch" nennen sie das und verbergen so ihre Wünsche. Der Roman führt in viele Abgründe der Gegenwart und bildet unterschiedliche Milieus (Kunst, Theater, Reichtum) ab. Die Autorin suchte Belege für große Menschheitsthemen wie "Missbrauch und Besessenheit, Paradies und Verbrechen, Himmel und Hölle".

Ein ambitioniertes, manchmal filmisch flirrendes Konzept, das an einigen Stellen seine schriftstellerische Ökonomie sprengt. Der Roman ist überbordend in seinen unterschiedlichen Tonarten, Tempi und Anspielungen auf Songtexte. Und er ist aufregend und interessant, weil Hegemann unserer gegenwärtigen Großstadtgesellschaft zwischen 14 und 40 Wut und Zorn entgegenbringt und dies gnadenlos darstellt. "Jage zwei Tiger" ist aber auch ein Buch über die Sehnsucht nach Glück.

Besprochen von Verena Auffermann

Helene Hegemann: Jage zwei Tiger
Hanser Berlin 2013
315 Seiten, 19,90 Euro
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