Deftige Schwänke aus düsterer Zeit

13.06.2013
Es wimmelt von zotigen Pfaffen, gerissenen Frauenzimmern, lüsternen Gattinnen und liebestollen Ehemännern. Als Giovanni Boccaccio seine Novellen verfasste, grassierte die Pest. So hat es seinen Sinn, dass die Erzählungen des <em>Decameron</em> etwas derb ausfallen: Boccaccio feiert die sinnliche Liebe als vitalen Akt und Widerstand gegen den Tod.
Er gilt als der Vater der europäischen Erzählliteratur und lieferte mit seinem Decameron das Modell für die volkssprachliche Prosa in Italien: Giovanni Boccaccio. Vermutlich im Juni 1313 in oder bei Florenz geboren, wuchs er im merkantilen Milieu der Stadt am Arno auf und absolvierte auf Wunsch seines Vaters zuerst eine kaufmännische Ausbildung. 1327 ging er mit seinem Vater, der für das Bankhaus der Bardi arbeitete, nach Neapel und lernte dort die glanzvolle höfische Kultur der Anjou kennen.

Boccaccio studierte Jura, zeigte sich aber vor allem von der gut ausgestatteten königlichen Bibliothek fasziniert, wo er nicht nur die Texte der Antike, sondern auch die bewunderten Zeitgenossen Dante und Petrarca und vor allem französische Literatur las. Außerdem kursierten in der eleganten Hafenmetropole zahlreiche Geschichten aus Übersee, die ebenfalls zu Quellen seiner späteren Novellen wurden.

1340 kehrte Boccaccio in das krisengeschüttelte Florenz zurück, trat in den Staatsdienst ein und verfasste nebenher Gedichte, lateinische Elegien und italienische Prosa. Die Pest von 1348 lieferte die Rahmenhandlung für seine berühmte Novellensammlung, die er um 1351 abschloss: In der Kirche Santa Maria Novella versammeln sich an einem Dienstagmorgen sieben junge Frauen und drei Männer, die beschließen, vor der Seuche aufs Land zu fliehen und hier die Zeit auf ehrbare Weise zu verbringen. Für jeden Tag wird ein König oder eine Königin ernannt, unter deren Vorsitz Geschichten erzählt werden. Es folgt ein bunter Reigen aus deftigen Schwänken, Parabeln und Satiren, die das gesamte Formenrepertoire der damaligen Dichtung variieren.

Die von Kurt Flasch übersetzte und mit einem Nachwort versehene Auswahl konzentriert sich auf die Liebesgeschichten des Decameron. Die Vielfalt ist groß: Es wimmelt von zotigen Pfaffen, gerissenen Frauenzimmern, lüsternen Gattinnen und liebestollen Ehemännern. Meistens siegen Witz und Lebensklugheit, der Regelverstoß wird mit Sympathie geschildert und großmütig verziehen, aber auch Tod und Wahnsinn kommen vor.

Für den Leser von heute mögen die sinnenfrohe Derbheit und die offene Kritik am Klerus verblüffend sein. In seinem Nachwort geht Kurt Flasch, Übersetzer und großer Mittelalter-Kenner, den Liebeshändeln nach. Boccaccio feiert die sinnliche Liebe als vitalen Akt und Widerstand gegen den Tod, so Flasch, gleichzeitig ging es dem Florentiner vor allem darum, sie von den asketischen Reden der Kirche zu befreien. Es handelt sich also auch um eine ideenpolitische Intervention, hinter der das Streben nach einer neuen ethischen Orientierung steckt.

Flasch weist darauf hin, dass Boccaccios Frauen aktive Rollen auf den Leib schreibt und weibliche Autonomie unterstützt. In mehreren Novellen kehren junge Frauen ihren gelehrten, aber kraftlosen Ehemännern den Rücken und entscheiden sich für sinnenfrohe Liebhaber von niederem Rang. Von Idealisierung ist aber dennoch keine Spur. Die Liebe bleibt ein riskantes Unterfangen – und ist dennoch jede Gefährdung wert.

Besprochen von Maike Albath

Giovanni Boccaccio: Liebesgeschichten aus dem Decameron
Aus dem Italienischen von Kurt Flasch
C.H. Beck, München 2013
160 Seiten, 13, 99 Euro