Deep-Purple-Sänger Ian Gillan wird 75

Brachiale Inbrunst ohne Kitsch und Pathos

05:57 Minuten
Der Sänger von Deep Purple, Ian Gillan, bei einem Konzert in Mailand.
Er war der erste winselnde Macker der Rockmusik und ist heute mit sich im Reinen: Ian Gillan, hier bei einem Konzert in Mailand. © picture alliance / NurPhoto / Mario Cinquetti
Von Laf Überland · 19.08.2020
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Er kann heulen, kreischen und geerdet singen: Wie ein Handwerker arbeitet Ian Gillan mit seiner Stimme. Als Sänger von Deep Purple war er stilprägend für den Hard Rock, er stieg bei der Band aus und wieder ein - und machte zwischendurch auch mal was ganz Anderes.
Im Juni 1970 beendete die englische Band Deep Purple unüberhörbar das zarte und poppige Jahrzehnt der Sechziger: mit einem für damalige Hörgewohnheiten infernalischen Lärm.

"Speed King", in dem Stück geht der Lärm fast eine Minute weiter, bis dann der Sänger Ian Gillan aus einem zarten Orgel-Tüdelü heraus mit seinem ersten Gesangston an die große Öffentlichkeit tritt.
Gillan hatte bereits ein paar Zeilen zu einem merkwürdigen Konzert für Gruppe und Orchester mit den Royal Philharmonikern beigetragen. Aber das war ja kein Rockalbum, sondern: Kunst.
Mit dem auch über die Jahrzehnte unkaputtbaren Deep-Purple-Album führte Ian Gillan etwas Ureigenes in die Rockmusik ein: nämlich den winselnden Macker!
"Child in Time" zum Beispiel war ja eigentlich ein Protestsong gegen den Vietnamkrieg. Doch das hinderte die jungen Rockfans nicht daran, es zur Hauptschmuse-und-Petting-Nummer-eins der Rockgeschichte zu machen:
"Child in Time", der Soundtrack für zehneinhalb Minuten Dauerzungenküsse, eine Innovation im jugendlichen Musik-Kosmos!

Er sang den Jesus in "Jesus Christ Superstar"

Aber sowieso war Ian Gillans Art zu singen einzigartig und neu im Rock: Zwar hatte es schon einige Heul- und Kreischbojen gegeben - von Anfang an sogar. Aber im Gegensatz zu denen war Gillans Stil nicht süßes Drama, sondern: brachiale Inbrunst!
Er war gut dabei und ohne Kitsch und Pathos so ergreifend, dass man ihn in der englischen Originalversion von "Jesus Christ Superstar" den Jesus singen ließ - mit all seinen Anfechtungen, Zweifeln und Wutausbrüchen bei der Tempelaustreibung, beim letztzen Abendmahl und im Garten Gethsemane.
Ian Gillan ist kein Soulsänger, der sein Innerstes nach außen quetscht: Gillan ist Handwerker, Gesangshandwerker: Und so sah er sich auch.
Anders als zum Beispiel der Superstar von Deep Purple, Ritchie Blackmore, zu erleben an der sechsaitigen elektrischen Verlängerung seines sekundären Geschlechtsmerkmals, war der Sänger einfach bodenständig. Weshalb sich die beiden dermaßen bekriegten, dass später immer nur einer der beiden der Band angehören konnte – wobei Blackmore als Gitarrengott dann durchaus auch den Anwalt einschaltete, weil die Musiker zwar noch Musik spielten, aber nicht mehr miteinander redeten.
Naja, so was war nichts für den geerdeten Sänger. Weshalb er 1973 zum ersten Mal das Handtuch schmiss und sagte, er wolle nie wieder singen: Und schon gar nicht in einer intriganten Band wie Deep Purple!

Job bei einem Motorradhersteller

Stattdessen arbeitete er im Management eines Motorradherstellers, leitete dann in London ein Aufnahmestudio - und ein Country Club Hotel an der Themse, in Thames Valley. Doch natürlich konnte er das Singen nicht sein lassen: Über die Jahre gründete er zwei eigene Bands, arbeitete an Projekten anderer Stars mit, betrieb immer wieder mal Soloprojekte.
Und 1983 sang er sogar tatsächlich bei Black Sabbath, als Ozzy Osbourne gerade mal wieder nicht zur Verfügung stand. Ein Gerücht besagt, dass Gillan sich im volltrunkenen Zustand überreden ließ, den Kontrakt zu unterzeichnen.
Als er in den Neunzigern dann zum dritten Mal bei Deep Purple einstieg, soll im Vertrag als Bedingung gestanden haben, dass er eine Abmagerungskur macht. Das Ergebnis war, dass sich ein knackig durchtrainierter Sänger zwischen ergrauenden älteren Herren auf der Bühne austobte.
Ich bin nicht gut darin, Pläne zu machen, sagt Ian Gillan, der heute anscheinend ziemlich zufrieden in Portugal lebt, wenn er nicht für Deep-Purple-Tourneen oder - ganz der Handwerker - mit dem Rock-Meets-Classic-Tross durch Deutschland und Österreich reist. Und ich habe keinerlei Ambitionen, fährt Ian Gillan fort, hatte ich nie.
Vielleicht hat gerade das ihn ja daran gehindert, seiner Seelen-Musik, dem Hardrock, zwecks Poptauglichkeit den Rücken zu kehren.
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