Debüt im Deutschlandradio Kultur

Verräumlichte Blockflöte

Die schwedische Flötistin Anna Petrini mit einer Paetzold-Kontrabassflöte
Die schwedische Flötistin Anna Petrini mit einer Paetzold-Kontrabassflöte © Jesper Lindgren
21.04.2015
Ob alt, ob neu - mit ihren verschiedenen Blockflöten kennt Anna Petrini keine zeitlichen und auch keine räumlichen Grenzen. Jetzt gibt die schwedische Musikerin zusammen mit ihrem Ensemble ihr Debüt im Deutschlandradio Kultur im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin.
Mit einem außergewöhnlichen Programm debütiert Anna Petrini - dabei spannen die junge Künstlerin und fünf weitere Musiker den programmatischen Bogen äußerst weit: Von Werken des Barock reicht er bis hin zu zeitgenössischen Kompositionen. In den neuen Werken spielt Petrini nicht nur moderne Exemplare ihres Instruments, sondern lässt sie auch von Live-Elektronik verstärken, verfremden und begleiten.
Anna Petrini absolvierte ihren Master-Abschluss an der Königlichen Musikhochschule in Stockholm. Stipendien der Schwedischen Musikakademie ermöglichten ihr danach ein Aufbaustudium in Amsterdam. Anna Petrini hat sich sowohl im Bereich der Alten wie der Neuen Musik einen guten Namen gemacht. Sie ist international als Solistin wie als Kammermusikerin gefragt und wurde zu Festivals wie dem Warschauer Herbst, dem Huddersfield Contemporary Music Festival, den IGNM World New Music Days, dem Stockholm Early Music Festival, den Nordischen Musiktagen und an die Tokyo Opera City Recital Hall eingeladen. Anna Petrini arbeitet intensiv mit mehreren Kammermusikensembles in und außerhalb von Schweden zusammen. Mit dem Ziel, das Repertoire für Blockflöte zu erweitern, widmet sie sich engagiert der zeitgenössischen Musik.
Die erste Konzerthälfte ist der Alten und traditionellen Musik gewidmet und beginnt mit einer Sonate aus der Feder von Arcangelo Corelli. Die insgesamt zwölf Sonaten für Solovioline und Basso continuo op. 5 erschienen im Jahr 1700 und waren der Kurfürstin Sophie Charlotte von Brandenburg gewidmet, die zu diesem Zeitpunkt mit dem Bau ihrer Sommerresidenz beschäftigt war, dem heutigen Schloss Charlottenburg. Die ihr von Corelli gewidmete Sonaten-Sammlung zählt heute zu den Meilensteinen der Violinmusik. Mit der elften Sonate in E-Dur erweiterte Corelli die Grenzen der tonalen Welt.
Nicola Matteis, Violinvirtuose, Zeitgenosse und Landsmann Corellis, verließ schon früh Italien, um sein Glück in England zu versuchen. In London muss die Musik des Neapolitaners mit ihren kapriziösen Verzierungen zunächst abschreckend gewirkt haben. Es ist Matteis und der großen Beliebtheit seiner Ayrs – Suiten für Violine und Generalbass – zu verdanken, die er zwischen 1676 und 1699 veröffentlichte, dass der italienische Stil schließlich auch in England bekannt wurde. Wie die "Aria Amorosa" und das Stück "Ground after the Scotch Humour" waren einige der darin enthaltenen kurzen Tanzstücke auch für die Blockflöte vorgesehen.
Die beiden kurzen Stücke aus dem "Fluyten Lust-Hof" stammen von Jacob van Eyck, einem niederländischen Virtuosen des Blockflötenspiels. Von Geburt an blind, fand er dank seines scharfen Gehörs heraus, wie man Glocken stimmen kann, und entwickelte - zusammen mit den Gebrüdern Hermony - die weltweit ersten sauber gestimmten Carillons. Für sein Blockflötenspiel verwendete Jacob van Eyck Themen aus Volksliedern, französischen Liebesliedern oder internationale Tophits wie John Dowlands "Can she excuse my wrongs" von 1597.
Mit dem folgenden Stück "Inevitabilini" wirft der schwedische Komponist Jesper Nordin, 1971 in Stockholm geboren, einen Blick auf die Traditionen seines Landes. Das Stück basiert auf einem schwedischen Volkslied aus dem 18. Jahrhundert. Ursprünglich für Solo-Blockflöte geschrieben, wird es in der heutigen Fassung von einer Gambe sowie einer Theorbe begleitet. Ohne Unterbrechung schließt sich der nordische Volkstanz "Polska från Medelpad" an, ein Paartanz im Dreivierteltakt, der sich in Schweden auch heute noch großer Beliebtheit erfreut.
Antonio Vivaldi, der 15 Jahre jünger als Corelli war, nahm in seinen zwölf Violinsonaten direkten Bezug auf Corellis Opus 5. Vivaldis Sammlung aus dem Jahr 1705 schließt ebenfalls mit einem Variationssatz, der mit "La Follia" überschrieben ist. Es handelt sich dabei um einen portugiesischen Tanz aus dem 16. Jahrhundert, dessen Titel auf die „übermütige Ausgelassenheit" oder „lärmende Lustbarkeit" der Tänzer verweist.
In "Split Rudder" erkundet die 1974 in Schweden geborene Komponistin Malin Bång die Klänge der Paetzold-Kontrabass-Blockflöte: „Ein Mikrofon, das im Fußbereich der Bassflöte angebracht ist, fängt die facettenreiche Klangwelt des Instruments ein und hebt die große Bandbreite kontrastreicher Spieltechniken hervor, die von vertrauten Luftgeräuschen und Rauschklängen bis hin zu harschem Knurren im tiefen Bassregister reichen." Bång ließ sich für das knapp 10-minütige Stück von der Ballade "Briggen Blue Bird of Hull" des schwedischen Dichters und Komponisten Evert Taube inspirieren.
In "Seascape" von Fausto Romitelli ist das Meer nicht nur Kulisse des Geschehens, sondern Hauptmotiv einer zeitlosen Klanglandschaft, in die der Hörer von Beginn an hineingesogen wird. Ebbe und Flut, Fluss und Rückfluss sind durch den regelmäßigen Wechsel von ein- und ausgeatmeten Klängen nahezu physisch erfahrbar. Luftiges Brausen und Pfeifen, Rattern und Knattern sind Teil des sonoren Gefüges. Kaum ein anderes Stück lotet die klanglichen und spieltechnischen Extreme der Paetzold-Kontrabass-Blockflöte derart versiert aus wie "Seascape", das mittlerweile zu einem Klassiker des zeitgenössischen Blockflöten-Repertoires geworden ist.
In der Programmnotiz zur Uraufführung der ersten Fassung von 2007 beschreibt der dänische Komponist Simon Steen-Andersen seine Studie für Violine als „ein choreographisches Spiel, eine Art Tanz mit sich selbst". Für sein Stück verwendete er eine Aktionsschrift, die ohne Noten auskommt. Vielmehr legte der Komponist Handlungsabläufe fest, die bei der Ausführung auf der Violine zu klanglichen Resultaten führen. Zwei Parameter standen dabei im Zentrum seiner Beobachtung: Die Bewegung des Bogens zwischen Steg und Bogenspitze und die Bewegung der linken Hand auf den Violinsaiten. Ursprünglich für Solo-Violine konzipiert, erklingt im heutigen Konzert erstmals eine Duo-Fassung für Violine und Slide-Whistle.
Oscar Bianchi, 1975 in Mailand geboren, komponierte "Crepuscolo" während seiner Forschungsarbeit 2004 am IRCAM in Paris. Ausgangspunkt seiner Recherche war es, zu erproben, wie sich Klänge mithilfe der elektronischen Klangbearbeitung verräumlichen lassen. Durch den Einsatz der Live-Elektronik werden die gespielten Klänge in Echtzeit zusätzlich modifiziert, mit sich selbst überlagert und durch weitere Klangschichten wie Tonbandeinspielungen und elektronische Klänge ergänzt.
Das Stück sei, so Bianchi, „eine Hommage an die Aufhebung von Raum und Zeit", ähnlich der Stimmung am frühen Morgen, wenn Tag und Nacht für einen kurzen Moment zu verschwimmen scheinen.
(Die Werkkommentare stammen von Nina Jozefowicz aus dem Programmheft)
Debüt im Deutschlandradio Kultur
Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 16. April 2015
Arcangelo Corelli
Sonata XI op. 5
Nicola Matteis
"Aria Amorosa"
"Ground after the Scotch Humour"
Jacob van Eyck
„Excusemoy" und „Boffons", aus: "Der Fluyten Lust-Hof"
Jesper Nordin
"Inevitabilini" (arr. Ensemble Stravaganti)
Anonym (18. Jahrhundert)
"Polska från Medelpad" (arr. Ensemble Stravaganti)
Antonio Vivaldi
Sonata XII, La Follia, op. 1 (arr. Ensemble Stravaganti)
ca. 20.45 Uhr Konzertpause, darin:
Mascha Drost im Gespräch mit Anna Petrini
Malin Bång
"Split Rudder" für verstärkte Paetzold-Kontrabassflöte und Elektronik
Fausto Romitelli
"Seascape" für verstärkte Paetzold-Kontrabassflöte
Simon Steen-Andersen
"Study for String Instrument #1" - Uraufführung der Fassung für Violine und Slide Whistle
Oscar Bianchi
"Crepuscolo" für Paetzold-Kontrabassflöte und vierkanalige Live-Elektronik
Anna Petrini, Flöten
Christian Kjos, Cembalo
Tore Eketorp, Viola da Gamba
Karl Nyhlin, Laute, Barockgitarre
Karin Hellquist, Violine
Mats Erlandsson, Live-Elektronik/Klangregie