Debattenkultur

Immer davon ausgehen, dass der andere Recht haben könnte

04:31 Minuten
Zwei streitende Münder mit Sprechblasen in einer Collage
Es werde zu viel gebrüllt und zu wenig aufmerksam zugehört, meint Christian Schüle © IMAGO / Ikon Images / IMAGO / Stuart Kinlough
Ein Meinungsbeitrag von Christian Schüle · 27.03.2024
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Um die Diskussionskultur in Deutschland stehe es schlecht, meint Autor Christian Schüle. Debatten würden verhindert, Andersdenkende als böse markiert. Höchste Zeit, mehr Toleranz zu entwickeln, gerade gegenüber Positionen, die man nicht teilt.
Da schlägt also die CDU eine Reform des Bürgergelds vor. Kann man richtig oder falsch finden. Was passiert? Die Kritiker schäumen geradezu vor Wut. Verantwortungslos, ein Angriff auf den Sozialstaat, spielt den Feinden der Demokratie in die Hände! Inwiefern die Idee gesamtgesellschaftlich weiterführen könnte? Kein Interesse. Diskussion: tot.
Da findet jemand mitten in der Corona-Pandemie vor Jahren Schulschließungen falsch oder erkennt in der Impfung eine größere Gefahr als im Virus: postwendend Gesellschaftsfeind, ja Menschenfeind!
Da werden Briefunterzeichner, die mitten im Krieg zu Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aufrufen, verdammt und verachtet, und zwar sofort. Ebenso wie Gegenbriefeschreiber, die weitere Waffenlieferungen fordern – als wären Briefe deutscher Öffentlichkeitsarbeiter schlimmer als der Krieg selbst.
Kritisiert jemand die Militär- oder Siedlungspolitik der israelischen Regierung in Gaza, läuft er Gefahr, sogleich als Antisemit zu gelten, obwohl kein einziges Wort über oder gegen das Jüdischsein gefallen ist.
Verurteilt einer die Hamas, läuft er Gefahr, als rassistischer Genozid-Leugner dazustehen. Zack. Entweder-Oder. Label drauf. Schablone drüber. Schublade zu. Verständigung? Null. Verständigungsbereitschaft? Null. Interesse an anderen Argumenten? Null.

Diskursverhinderung statt Aussprache

Der deutsche Diskurs ist keiner. Er ist ein System der Diskursverhinderung. Die öffentliche Debatte ist geprägt von Störmanövern und ideologischen Narrativen bereits im Vorfeld jedes möglichen Diskurses. Es wird in einer Tour ausgeschlossen, abgegrenzt, ausgegrenzt, verdächtigt und unter Verdacht gestellt. Mittlerweile gilt nicht mehr die Unschuldsvermutung, sondern die Schuldgewissheit.
Merkwürdig viele Zeitgenossen scheinen auf einer Mission zu sein: Sie wollen belehren und bekehren. Freund gegen Feind, als wäre selbst die Frage nach veganer Kantinenkost eine Endschlacht ums Dasein. Wer vor Beginn jeder Verständigung die Sprecherposition des Anderen delegitimiert, delegitimiert die Auseinandersetzung an sich. Warum nur soll man sich immerzu absolut, rechthaberisch und kompromisslos sofort auf eine Seite schlagen? Erstens ist irren menschlich, zweitens sind wir alle fehlbar, und drittens ist nichts im Leben je eindeutig.

Es braucht ergebnisoffenen Diskurs

Ein ergebnisoffener Diskurs hingegen – und nur der ist sinnvoll – setzt die Bereitschaft voraus, sich überhaupt verständigen zu wollen. Wie wäre es also, statt ständiger Erregungs-, Empörungs- und Eskalationsspiralen, mit dem Konzept einer Kommunikation der Zuwendung: mit einer Haltung also, die erst einmal grundsätzlich anerkennt, dass der Andere genauso Recht haben könnte wie man selbst?
Warum sollte es nicht möglich sein, in einem Satz die israelische Militärpolitik zu kritisieren und zugleich den Massenmord der Hamas scharf zu verurteilen? Wieso kann man ungesteuerte Migrationspolitik nicht für einen großen Fehler halten, ohne gleich als Faschist zu gelten? Und warum genau bitte kann man nicht an biologisch begründeter Zweigeschlechtlichkeit festhalten, ohne postwendend als ‚transfeindlich‘ gebrandmarkt zu werden? Das bedeutet ja doch in gar keinem Fall, Transpersonen das Recht abzusprechen, ihr Leben so zu führen, wie sie es möchten.

Zuhören, gerade wenn man anderer Meinung ist

Wer ständig auf jede Silbe achten muss, weil jede Silbe von irgendwem auf Berechtigung abgescannt wird, sagt irgendwann gar nichts mehr. Wesenskern jeder Demokratie ist und bleibt der organisierte Streit um die besten Ideen. Wahrhaft besorgniserregend wäre es, würde gar nicht gestritten. Jeder andersgelagerten Position sofort Böswilligkeit zu unterstellen, ist letztlich selbst böswillig.
Bedeutet Toleranz im eigentlichen Sinn denn nicht, Haltungen und Positionen anerkennen zu können, gerade weil man sie nicht teilt? Eine aufgeklärte pluralistische Gesellschaft braucht dringend mehr Sowohl-als-Auch statt Entweder-Oder.
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