Debatte

"Wir sind dabei, das Buch abzuschaffen"

Moderation: Matthias Hanselmann · 25.02.2014
Es bestehe die Gefahr, dass die Literatur keine meinungsbildende Rolle mehr spiele, sagt Burkhard Spinnen, Jury-Vorsitzender des Ingeborg-Bachmann-Preises. Er kritisiert die Ökonomisierung des literarischen Metiers.
Matthias Hanselmann: Die Debatte über die deutsche Gegenwartsliteratur ist erneut in vollem Gange. Den Anfang machte der Autor Florian Kessler in der "Zeit": Er erhob den Vorwurf, unsere Gegenwartsliteratur sei brav, unpolitisch und konformistisch, und das liege daran, dass die Absolventen der deutschen Schreibschulen in Leipzig und Hildesheim fast ausnahmslos Arzt- und Lehrerkinder seien. Inzwischen haben sich einige Schriftstellerkollegen und Feuilletonisten in die Debatte eingeschaltet, unter anderem Maxim Biller mit einer harschen Polemik.
Ich habe vor der Sendung mit Burkhard Spinnen gesprochen, er ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises und ehemaliger Gastprofessor am Leipziger Literaturinstitut. Meine erste Frage: Florian Kessler, nebenbei auch Occupy-Aktivist, beklagt auch den Aufstieg mächtiger Handelsketten auf dem Buchmarkt, das Entstehen riesiger Verlagshäuser und den Aufstieg einflussreicher Literaturagenten, die mit einem Buch einen wahren Börsenhype lostreten können.
Wo ist da noch Platz für nonkonformes Schreiben, für riskantes Schreiben, für Autoren, die sich etwas trauen, ohne beim Schreiben gleich an die Bestsellerlisten zu denken?
Burkhard Spinnen: Ja, also Kessler tut ja zwei Dinge: Auf der einen Seite betreibt er so eine Art Selbstkasteiung und sagt, die Schriftsteller kommen alle aus der falschen Kaste, die sind erfahrungslos, die sind von ihren Eltern gepampert worden, die haben so ein Setting von gängigem Mainstream-Bildungszeug mitbekommen, und das quirlen sie jetzt noch mal durch. Das hat diesen Artikel natürlich so faszinierend und so sexy gemacht - es ist immer schön, jemandem dabei zuzugucken, wenn er sich selber geißelt.
Andererseits stehen völlig andere Sachen in demselben Text drin, nämlich da gibt es auf einmal dann ganz plötzlich eine Anklage auch, die übrigens auch in anderen Texten dieser Debatte dann da ist: Ja, wie sieht denn eigentlich die ganze Literaturlandschaft aus? Ich möchte dringend dazu raten, Ursache und Wirkung, Symptome und Krankheitsherd voneinander zu trennen.
Alle haben auf ihre Art und Weise recht
Alle, die bislang in dieser Sache etwas gesagt haben, haben auf ihre Art und Weise recht. Wenn Maxim Biller sagt, uns fehlen die jüdischen Intellektuellen, dann hat er recht. Wenn jemand sagt, die Migranten, Immigranten-, Emigrantenliteratur hat nicht den Stellenwert, den sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehabt hat, als Menschen von den Randzonen Deutschlands in die Mitte hineingedrängt sind und da hingeschrieben haben, alle haben Recht.
Nur das sind Sekundärphänomene. Für mich ist das Primärphänomen tatsächlich das, dass der Stellenwert von Literatur, der ganz allgemeine Stellenwert von Literatur in unserer Gesellschaft im Rahmen der anderen Künste und im Rahmen aller Segmente der Unterhaltungsindustrie dramatisch gesunken ist, reduziert. Es gibt keine Nachfahren für solche Gestalten wie Grass, Böll, Walser, Enzensberger. Dieses Vorwegschicken von Bedeutung von vielen, vielen, vielen Menschen an Literatur, das ist fast weg.
Hanselmann: Warum ist das so?
Spinnen: Weil die Zeiten sich wandeln. Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der Literatur keine meinungsbildende Rolle spielte, ist ein paar 100 Jahre her, und jetzt könnten wir Gefahr laufen oder was heißt Gefahr, vielleicht passiert es einfach, dass Literatur das wiederum nicht tut. Schauen Sie, wir sind gerade dabei, das Buch abzuschaffen. Das Buch war einmal der sichtbare Träger der Bedeutung des geschriebenen Wortes.
Heute ist eine Gebrauchsanleitung für einen Kärcher und ein 800-Seiten-Roman nach Maßgabe der Digitalisierung ein- und dasselbe, und mehr oder weniger werden sie auch so gehandhabt. Früher stand in einem Buch nicht, wie Sie Ihren Rasen kärchern - heute haben Sie dasselbe Abspielgerät für Proust und für einen Kärcher. Das ist ein Zeichen von etwas, und das ist ein Vehikel für den Wandel von Bewusstsein.
Hanselmann: Ich kann Ihnen da nicht so ganz folgen, besonders wenn Sie diesen Vergleich machen mit den Kärchern und der Literatur auf demselben Abspielgerät. Ich kann heute ein Buch zur Hand nehmen und habe das haptische Gefühl und das alte Gefühl des Buches. Ich kann meinen E-Reader zur Hand nehmen und dort 20, 30 Bücher gespeichert haben und sie lesen, genauso wie ich in einem anderen Buch lesen kann. Das ist doch eigentlich ein Fortschritt der Zeit und kein Rückschritt.
Spinnen: Ja, Sie sagen, Sie können mir nicht folgen - Sie wollen mir nicht folgen. Und das finde ich auch ehrenhaft und nachvollziehbar. Auch ich würde mir wünschen, dass die Bücher so bleiben, wie sie sind, und dass es für Texte nach wie vor eine, also für literarische Texte nach wie vor eine herausgehobene Plattform gibt, ein herausgehobenes, ein spezielles, ein besonderes Vehikel, und nicht das ubiquitäre und quasi alles greifende Vehikel des digitalen Abspielgeräts.
Ich würde mir das wünschen - aber es ist nicht so. Und wir werden uns alle natürlich noch in einer Übergangsphase lange Zeit befinden, in der viele Menschen rumlaufen und sagen, na, das muss ich aber als Buch haben und das muss ich aber als Buch haben. Aber erinnern Sie sich, wie kurz die Phase war, in der Leute kein Handy haben wollten?
Hanselmann: Ich erinnere mich daran. Wollen wir noch mal kurz über das Creative Writing sprechen. Kann man denn an diesem Creative-Writing-Einrichtungen wirklich das Schreiben lernen, heute noch, oder werden diese nicht auch überbewertet? Ich meine, große Teile der Weltliteratur sind ja schließlich ohne Creative Writing entstanden.
"Schaffen wir doch Klagenfurt ab, schreien die Feuilletonisten"
Spinnen: Ja, und große Teile der unglaublich erfolgreichen amerikanischen Literatur kommen aus den Creative-Writing-Seminaren, die es in Amerika an jeder Uni gibt. Das müssten wir mal so weltgeschichtlich betrachten.
Wir Deutschen haben da immer so eine Sonderrolle gehabt: Bei uns hat Genie in Bezug auf Literatur immer eine ganz große Rolle gespielt. Wissen Sie, warum? Weil Schriftsteller bei uns so schlecht behandelt worden sind. Deswegen haben die gesagt, also okay, wir sind minderwertige Handwerker, aber dafür sind wir Genies. Gut, das ist eine andere Angelegenheit.
Schauen Sie, es kommt darauf an, nicht nur darauf an, was an Schreibschulen gemacht wird, sondern es kommt darauf an, mit welchem Bewusstsein Menschen da hingehen. Schreiben lernen, wenn man es vorher nicht konnte, kann man nicht. Das ist nicht wie eine Fahrschule. Sie können nicht Auto fahren, wenn Sie rauskommen, kommen Sie raus. Aber in gewisser Weise ist es doch wie eine Fahrschule, denn ein bisschen was können Sie lernen. Die Frage ist nur: Wer werden Sie? Ein mittelmäßiger Volkswagen-Golffahrer, oder werden Sie so was wie Sebastian Vettel oder so was in der Art?
Das hängt ganz vom Bewusstsein der Leute ab, die das da machen. Das jetzt auf die Schreibschulen zu schieben, ist einer der Versuche, den allgemeinen Bedeutungsverlust von Literatur, Ihr Angepasst-Sein, also die Erscheinung der Angepasstheit jetzt auf ein Phänomen zu reduzieren. Da gibt es irgendeine Schraube, an der wir drehen können! Zum Beispiel die nächste Schraube, an der ich ein bisschen sitze daneben und verschämt dran drehe: Klagenfurt. Schaffen wir doch Klagenfurt ab, schreien die Feuilletonisten, haben sie letztes Jahr geschrien, als es auf dem Aussterbeetat stand wegen schieren Geldmangels, schaffen wir es ab, dann wird unsere Literatur besser!
Gleichzeitig schreibt Volker Weidermann in der "FAS", dass einer der besten Texte, genauso wie Biller ihn gefordert hat, der von Katja Petrowskaja ist. Der hat aber letztes Jahr den Bachmann-Preis bekommen. Daran liegt es alles nicht. Unsere Systeme sind wunderbar, sie sind toll, die Förderung ist großartig. Aber wir treffen auf ein allgemeines Bewusstsein, dem Literatur nicht mehr wie früher mal - fragen Sie Peter Handke - heilig war. Ist nicht mehr.
Hanselmann: Da Sie gerade von Biller und Handke sprechen: Peter Handke und Botho Strauß packt Biller in seiner Polemik in die Ecke einer angeblichen müden Innerlichkeitsprosa und die deutsche Literatur sei wie ein todkranker Patient, der aufgehört hat, zum Arzt zu gehen, der aber allen erzählt, dass es ihm gut gehe.
Spinnen: Ja, hören Sie mich, dass ich sage, dass es ihm gut geht? Nein, ganz bestimmt nicht. Wenn Biller recht hat, hat er recht, die Frage ist nur: Was macht man dagegen oder macht man überhaupt etwas dagegen? Ich denke, wir müssen uns von folgendem Phänomen verabschieden, das ist ein Druck, der auf der Literatur seit 20 Jahren schwerst liegt, seit der allgemeinen Ökonomisierung von allem und jedem: Es ist nämlich ... Jeder, der irgendwie wertvoll sein soll im literarischen Betrieb, muss ein Erfolgsautor sein, Erfolgsautor, und das alles wird nur noch gemessen, wie im Radio, Sie werden sich erinnern, oder im Fernsehen, an den Einschaltquoten beziehungsweise an den Verkaufsquoten.
Wir ökonomisieren das ganze Metier, das heißt, wir bewerten es nur noch nach seiner ökonomischen Relevanz. Das sollten wir abstellen. Das wäre der erste wichtige Rettungsversuch.
Hanselmann: In der "FAZ" gesteht der Autor Dietmar Dath seinem Kollegen Biller immerhin zu, dass dieser der Bewusstseinsindustrie eine reinsemmelt. Welche Probleme haben denn heute junge Autoren in Zeiten der Konzentration des Geschäfts? Wir haben gerade davon gesprochen, in Zeiten von Amazon, Hugendubl, Dussmann und dem E-Book-Readern? Wie würden Sie einem jungen Schriftsteller Mut machen, riskant, mutig zu schreiben?
Spinnen: Ja, nicht riskant, mutig schreiben, damit das dann gleich wieder so eine Youtube-Erfolgsgeschichte wird. Wir gehen in die Garage, schrammeln auf unseren Sachen rum, singen schräg, machen ein Video, kommt in Youtube rein, wird 50 Millionen mal angeklickt, und dann machen wir eine Platte und Tourneen und werden schweinereich.
Das ist ja nur die Mythologisierung des Ökonomischen. Es geht darum, das vollständig auszublenden. Es geht darum, sich auf das zu konzentrieren, was man machen will, ohne den Pop-2-Effekt, also den Effekt, nicht der Populärkultur, die sich gegen etablierte Kultur wehrt, sondern der Populärkultur, die Population als Masse haben will, nämlich als Masse von zahlenden Rezipienten.
Hanselmann: Aber welcher Autor kann es sich denn heutzutage leisten, sich zwei Jahre komplett zurückziehen, von Luft und Liebe zu leben und einen Roman zu schreiben?
Spinnen: Ja, dann muss man es eben wieder so machen wie im 18. oder 19. Jahrhundert, dann ist eben Verhungern ein Teil der Veranstaltung, dann müssen sie eben einen Plan B oder einen Plan C haben.
Ich sage ja niemandem, dass er hungern muss, damit die Texte gut sind, um Gottes, Himmels Willen. Ich bin derjenige, der für Forderung steht, ich bin derjenige, der seit Jahren den Bachmann-Preis immer wieder vor allem Möglichen rettet, weil da Förderungen ausgegeben werden.
Ich will keinen Literaturpreis verschwinden sehen, aber ich will das ökonomische Bewusstsein dahinter verschwinden sehen, das nur sagt: Ein Literaturpreis ist eine Investition, danach muss der Markt es richten.
Hanselmann: Was halten Sie allgemein von der Debatte, die gerade läuft? Kommt sie zur rechten Zeit? Kann sie etwas bewirken und bewegen?
"Sie kriegen die Pest nicht weg, indem Sie Salbe auf die Beulen schmieren"
Spinnen: Die Debatte gibt es seit 20 Jahren dauernd, sie wird immer wieder angestoßen von einzelnen, lebendigeren, lebhafteren Texten, vor etlichen Jahren Matthias Politycki und der relevante Realismus, wofür er schwer Schläge gekriegt hat, völlig zu Unrecht, Matthias Altenburg hat praktisch denselben Text in den Aussagen wie Biller, Kessler und so weiter vor, ich glaube, zehn, 15 Jahren mal geschrieben, Altenburg ist daraufhin ... hat den Namen gewechselt, nicht, weil sie hinter ihm her waren, sondern, weil er ein neues Leben als Krimiautor begonnen hat.
Das ist der Zustand der Literatur seit der Ökonomisierung, der allgemeinen Ökonomisierung unseres Bewusstseins. Und gelegentlich traut sich mal einer, wie zum Beispiel der junge Herr Kessler, der vielleicht nicht so viel zu verlieren hat, traut sich mal jemand, die Sache beim Namen zu nennen - nur es ist die Frage, ob die Symptome, die dann genannt werden oder sagen wir mal, die ... ob das, was genannt wird, nicht nur Symptome sind, und Sie wissen, Sie kriegen die Pest nicht weg, indem Sie Salbe auf die Beulen schmieren.
Hanselmann: Ein Punkt, Herr Spinnen, ist mir noch wichtig: Autoren mit ausländischen Wurzeln wirft Maxim Biller vor, sie hätten sich viel zu früh und intensiv angepasst an einen kalten, leeren Suhrkamp-Ton, wie er schreibt, oder den reservierten Präsensstil eines ARD-Fernsehdrehbuches.
Biller hat dafür sich einen schönen Begriff einfallen lassen, nämlich den Begriff Onkel-Tom-Literatur. Was hat denn die Qualität von Literatur mit der Herkunft der Autoren zu tun?
Spinnen: Ja, das ist ein sehr heikles Thema, das ist ein außerordentlich heikles Thema. Ich habe wahrscheinlich in zwei Generationen deutsche Vorfahren, dann kommen Holländer, aber das reicht jetzt für mich nicht aus, mich irgendwie als ethnische Randgruppe zu charakterisieren und da mitreden zu dürfen.
Ist sehr schwer für einen gebürtigen Deutschen, da mitreden zu können, weil es ist ein komisches und schwieriges Thema. Ich möchte eigentlich nicht, dass Literatur und ihre vorwegeilende Qualität - also sie ist gut, weil sie von jemandem kommt -, ich möchte das eigentlich nicht mit Ethnien verbinden. Das widerstrebt mir, da kriege ich, vielleicht, weil ich dann doch mittlerweile zu nah an der ersten Hälfte des Jahrhunderts dann noch dran gelebt nicht, aber dran geboren bin, da kriege ich schlechte Assoziationen.
Hanselmann: Vielen Dank, Burkhard Spinnen, er ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises und ehemaliger Gastprofessor am Leipziger Literaturinstitut.
Danke, Herr Spinnen!
Spinnen: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.