Kulturelle Aneignung und literarische Übersetzung

Das Prinzip der "schwankenden Annäherung"

06:26 Minuten
Amanda Gorman spricht an einem Rednerpult.
Die Frage nach der Übersetzung der Gedichte der US--Poetin Amanda Gorman hat für Diskussionen gesorgt. © AFP / Getty Images North America / Jon Kopaloff
Ludger Fittkau im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 18.11.2021
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Können und dürfen Weiße Texte von Schwarzen übersetzen? Oder sollten Übersetzer aus ähnlichen Erfahrungswelten stammen wie Autoren? In Frankfurt haben nun Fachleute über die grundsätzliche Frage nach der kulturellen Aneignung diskutiert.
Nachdem Amanda Gorman ihr Gedicht "The Hills We Climb" bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden gelesen hatte, stellte sich in Europa die Frage, wer ihre Lyrik übersetzen soll. Muss es eine Frau oder eine Person of Color oder darf es auch eine weiße Person sein?
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat in Frankfurt am Main Autoren, Literaturwissenschaftler und Übersetzer in grundsätzlich diskutieren lassen: Wo liegen die Möglichkeiten und die Grenzen gegenseitigen kulturellen Verstehens? Und wer darf was literarisch übersetzen? Wann beginnt kulturelle Aneignung?
Der Soziologe Heinz Bude habe sich in seinem Einführungsvortrag dagegen ausgesprochen, dass Einzelinteressen darüber bestimmen sollten, was gesagt werden dürfe und was nicht, berichtet Landeskorrespondent Ludger Fittkau. Als Positivbeispiele nannte Bude die Proteste des Arabischen Frühlings und am Istanbuler Gezi-Park. Dort hätten Menschen statt Gruppenegoismen gemeinsame Aktionen durchgeführt und eine Art des Zusammenlebens entwickelt.

Konkrete Erfahrungen schaffen Identität

Allerdings stieß Budes auch auf Kritik. Der Ansatz sei zu romantisch, hieß es. Die Idee, dass Gesellschaft über ein gemeinsames aufblitzendes Bewusstsein funktioniere, sei utopisch.
Bei Fragen der kulturellen Identität sei die Gesellschaft zerrissener, habe die Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach angemerkt. Man müsse die Frage stellen, wer konkret beispielsweise unter Rassismus leide. Solche Erfahrungen seien den Nicht-Betroffenen nicht ohne weiteres zugänglich.

Vorsicht und Sensibilität

Die professionellen Übersetzerinnen und Übersetzer hätten sich klar positioniert, sagt Fittkau: Man habe den Anspruch, an jeden Text herangehen zu können. Die Schriftstellerin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot habe in diesem Zusammenhang von einer "schwankenden Annäherung" gesprochen.
Natürlich sei beim Übersetzen Sensibilität gefragt. Diversen Stimmen müsse zu mehr Gehör verholfen werden. Auf Identität aber sei man dabei nicht angewiesen - so der Tenor des Abends, sagt Fittkau.
 
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