Debatte um Grunddienst

Integration durch Pflichtarbeit?

08:36 Minuten
Marinesoldaten stehen während der Dienststellung der neuen Fregatte "Baden-Württemberg" am Marinestützpunkt Wilhelmshaven und werfen während die Sonne scheint ihre Schatten auf den gepflasterten Boden.
Das Fehlen gemeinschaftlicher Aufgaben und Ersatzdienste könne man durchaus als Problem betrachten, sagt Scherr. © dpa/ Mohssen Assanimoghaddam
Albert Scherr im Gespräch mit Dieter Kassel · 25.07.2020
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Drei süddeutsche Bürgermeister fordern einen verpflichtenden Grunddienst für alle jungen Erwachsenen, die in Deutschland leben. Der Soziologe Albert Scherr sieht darin einen "pädagogischen Sinn“, hält die Forderung aber nicht für rechtskonform.
Dieter Kassel: Der Brief der Bürgermeister von Schorndorf, Schwäbisch Gmünd und Tübingen an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg hat in dieser Woche schon einiges Aufsehen erregt. Die drei, die übrigens von unterschiedlichen Parteien kommen – Grüne, SPD und CDU –, die drei beschreiben darin Probleme, die sie in ihren Städten mit Gruppen von Jugendlichen schon seit Jahren haben.

Sie nehmen die Krawalle von Stuttgart und Frankfurt zum Anlass, um unter anderem einen verpflichtenden gesellschaftlichen Grunddienst zu fordern – für alle Jugendlichen, egal welcher Hintergrund, egal ob es Mädchen oder Jungs sind. Über diese Idee wollen wir jetzt sprechen, und zwar mit Albert Scherr. Er ist der Leiter des Instituts für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg.
Die drei Bürgermeister schreiben auch in diesem Brief, dass sie sich 2017 in der gleichen Angelegenheit auch schon einmal an ihren Ministerpräsidenten gewandt haben. Das hat damals wenig Aufmerksamkeit erregt. Sollten wir jetzt die Sorgen der Bürgermeister nach den Krawallen von Stuttgart und Frankfurt ernster nehmen?

Die Probleme junger Menschen ernst nehmen

Albert Scherr: Aus meiner Sicht sollten wir erst einmal lernen, die Problematik junger Menschen ernst zu nehmen, vor allem junger Flüchtlinge, die Schwierigkeiten haben, sich hier in Deutschland eine Lebensperspektive zu eröffnen. Die mit sehr, sehr vielen Beeinträchtigungen und Begrenzungen aufgrund der Rechtslage konfrontiert werden. Und wir sollten darüber nachdenken, was getan werden kann, dass die Integrationsmöglichkeiten junger Flüchtlinge verbessert werden.

Kassel: Wobei Sie im Grunde genommen da sofort wieder – das hab ich bisher noch gar nicht erwähnt – bei Flüchtlingen und bei Menschen mit Migrationshintergrund sind. Und genau da gehen die drei Bürgermeister ja sozusagen integrativ, antirassistisch vor. Sie fordern einen solchen Dienst für alle Jugendlichen.

Scherr: Ja, sie tun das natürlich für alle Jugendlichen. Sie tun das aber anlässlich von Krawallen, die sehr stark mit Migration und mit Flüchtlingen assoziiert sind, weil die gesamte öffentliche und politische Debatte das sofort wieder als ein Thema verhandelt hat, vor allem als ein Thema mit Migranten und mit jungen Geflüchteten. Das ist der Zusammenhang.

Kassel: Na ja, gut, aber sie sagen ja selber – und der Bürgermeister von Stuttgart ist ja gar nicht dabei, bei den dreien –, dass in Ihren Städten dieses Problem schon seit Jahren existiert. Sie sagen auch, dass natürlich da nicht so etwas passiert ist wie in Stuttgart, aber dass es regelmäßig Probleme gibt, bei denen es zum Beispiel häufig vorkommt, dass Jugendliche der Polizei oder der Feuerwehr respektlos gegenüber auftreten.

Und sie sagen, – und ich hab das selber in einer anderen Stadt in Baden-Württemberg, in Reutlingen, auch erlebt –, dass da eine entsprechende Stimmung herrscht. Die Gruppen sind durchaus gemischt. Da sind Geflüchtete dabei, da sind andere Menschen mit Migrationshintergrund dabei, aber auch welche ohne. Es ist ja eine komische Mischung.

"Eine generelle Ablehnung der Polizei ist nicht vorhanden"

Scherr: Gut, aber ich greife mal das Stichwort auf mit der Respektlosigkeit auf. Man muss dazu erstens sagen: Es gibt keine Institution in der Gesellschaft, die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen so viel Respekt und Anerkennung genießt wie die Polizei. In dem Ranking von Institutionen schneidet die Polizei bei jungen Männern am allerbesten ab. Das heißt, eine generelle Ablehnung der Polizei ist zweifellos nicht vorhanden.

Was es gibt – und darüber muss man dann genauer reden –, sind Erfahrungen junger Männer mit ungerechtfertigten Polizeikontrollen und Racial Profiling. Also mit dem Gefühl, man wird kontrolliert allein aufgrund der Hautfarbe, oder weil man ein junger Mann ist, der so aussieht, als wäre er kein normaler Deutscher.

Dieses Gefühl von ungerechtfertigten Polizeikontrollen erzeugt bei Jugendlichen so etwas wie Misstrauen und Abwehr gegenüber der Polizei und wird dann vielleicht manchmal auch so sichtbar, dass es als Respektlosigkeit wahrgenommen wird.

Jetzt würde ich aber auch noch mal aufpassen: In einer demokratischen Gesellschaft würde man ja auch erwarten, dass nicht jeder angst-erstarrt stehen bleibt, sobald ein Polizist auftaucht. Und dass Bürger und auch junge Männer polizeiliches Verhalten hinterfragen, sich auch in Diskussionen mit der Polizei begeben, halte ich erst mal für einen Ausdruck von demokratischem Selbstbewusstsein und nicht für eine Respektlosigkeit.

Wie lassen sich Krawalle vermeiden?

Kassel: Na ja, die Bürgermeister beschreiben das ein bisschen anders, ich hab’s ehrlich gesagt auch anders erlebt. Die beschreiben ja ein Problem damit, dass die Polizei in Deutschland liberal ist und es auch sein muss in einem freien Rechtsstaat, und dass die Jugendlichen oft nicht begreifen, dass sie die Anordnungen ernst nehmen müssen, auch wenn es keine großen Folgen hat, wenn sie es nicht tun.

Scherr: Na ja, das kann man zum Teil so sehen. Dann muss man sich aber konkret die Konfliktsituationen anschauen, in denen das geschieht. Die Generaldiagnose von Respektlosigkeit halte ich für übertrieben, auch für allzu pauschal. Es geht ja konkret um Konfliktsituationen bei Feiergelegenheiten, abends, an Samstagen, wo unter Alkoholeinfluss Konflikte eskalieren und sich Jugendliche dann nicht mehr angemessen der Polizei gegenüber verhalten.

Die muss man sich genau anschauen und analysieren und fragen: Wie kann man solche Situationen vermeiden? Sonst kommt man in so einen Generaldiskurs: 'die Jugendlichen heutzutage sind respektlos gegenüber der Polizei'. Und das trifft in der Allgemeinheit sicher nicht zu.

"Bashing von Sozialarbeit führt nicht weiter"

Kassel: Das sagen die Bürgermeister auch nicht, aber sie sagen interessanterweise etwas anderes: Da ist die Rede davon, dass man mit rassistischen Vorurteilen nicht weiterkomme - "rassistische Schuldzuweisungen" heißt es da wörtlich -, aber der Satz geht weiter, ich zitiere mal. Womit man auch nicht weiterkäme, sagen die drei Bürgermeister, das ist mit einer von der eigenen Moral berauschten sozialpädagogischen Betreuungsromantik.
Scherr: Na ja, das ist erst mal eine rhetorisch schöne Formulierung, aber ich wüsste jetzt nicht, wer eine Betreuungsromantik haben würde bei den Sozialarbeitern. Ich habe in den letzten Wochen sehr viele Gespräche geführt, gerade mit den Jugendarbeitern, den Straßensozialarbeitern aus der Stadt Stuttgart. Die haben ein sehr realistisches Bild von ihrer Klientel und der Problematik. Und die verklären zweifellos ihre Jugendlichen nicht romantisch.

Die Ereignisse verweisen doch darauf, dass Straßensozialarbeit oder mobile Jugendarbeit schon viel dazu beitragen können, Konflikteskalationen in Stadtteilen, auf Plätzen und auch zur Polizei zu verringern. Gerade in Stuttgart gibt es da sehr viel positive Erfahrungen mit der sozialpädagogischen Arbeit, mit der Sozialarbeit auf der Straße.

Und dass es in der Stuttgarter Innenstadt so explodiert ist, hat auch damit zu tun, dass genau dort die Straßensozialarbeit nicht stattfindet. Also so ein pauschales Bashing von Sozialarbeit, glaube ich, führt nicht wirklich weiter, hilft auch niemandem etwas, widerspricht auch den Erfahrungen.

Klar ist natürlich auch, nur gut zureden hilft nicht, sondern es braucht eine Mischung aus Eröffnung von Chancen und Sanktionsdrohungen. Das würde aber auch kein vernünftiger Sozialarbeiter bestreiten.

Sind Pflichtdienste rechtlich zulässig?

Kassel: Zum Schluss noch einmal ganz konkret: Es steht ja noch viel mehr in dem Brief, aber wir reden über diesen Vorschlag dieses verpflichtenden Grunddienstes an der Gesellschaft. Uns ist beiden klar, es gibt nicht eine Maßnahme, wie auch immer sie lautet, die schlagartig das Problem löst.
Aber ein solcher Dienst, da müsste man gar nicht gucken, da muss man auch keine Stammbaumforschung betreiben, sondern es wäre völlig egal, ob jemand einen Migrationshintergrund hat oder nicht. Was spricht denn aus Ihrer Sicht gegen diesen Dienst als Einzelmaßnahme?

Scherr: Na ja, es ist erst einmal in großem Sinne eine grund- und menschenrechtliche Problematik. Wir kennen das Grundprinzip in der europäischen Menschenrechtskonvention, dass niemand zu Zwangs- und Pflichtarbeit gezwungen werden darf. Also Verpflichtung zur Arbeit – und sie fordern das ja auch noch einmal als kommunale Aufgabe – widerspricht erst einmal einem sehr grundrechtlichen und menschenrechtlichen Prinzip, dass Verpflichtung zur Arbeit in modernen, liberalen Gesellschaften nicht zulässig ist.

Das heißt, man müsste erst einmal klären: gibt es überhaupt eine rechtliche Konstruktion, die es erlauben würde, für ganze Jahrgänge zum Beispiel einen Pflichtdienst einzuführen? Dass die einen bestimmten pädagogischen Sinn haben, würde ich gar nicht bestreiten wollen.

Dass nach Abschaffung der Wehrpflicht und nach Abschaffung der entsprechenden Ersatzdienste so eine Phase fehlt in der Biografie junger Menschen, in denen sie verpflichtet sind, sich gemeinschaftlichen Aufgaben zu stellen, kann man als Problem sehen.
Nun haben wir ja auch eine ganze Reihe von Freiwilligendiensten in dem Bereich und haben eine enorme Nachfrage nach diesen Freiwilligendiensten. Von daher müsste man erst einmal sauber analysieren, ob es nicht die klügere Strategie wäre, die Zugänglichkeit und die Attraktivität der Freiwilligendienste zu steigern, statt eine Forderung zu stellen, von der ich glaube, dass die schon rechtlich nicht durchsetzbar ist.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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