Debatte um das Mehrheitswahlrecht

Von Gudula Geuther |
Wie das Ungeheuer von Loch Ness taucht sie hin und wieder auf, um dann ebenso sicher wie das Untier wieder zu verschwinden. So charakterisierte vor kurzem der Verfassungsrechtler und Wahlrechtsexperte Hans Meyer die Debatte um das Mehrheitswahlrecht.
Allerdings lohnt sich diesmal doch der zweite Blick, denn Nessi bekommt gerade ein neues Gesicht. Was seit Wochen immer wieder als Idee aufscheint, in Fragen von Journalisten in den Hinterzimmern des politischen Berlin, in Gedankenspielen, in Sorgen der Opposition, das ist meist nicht das plumpe Alles-oder-Nichts der reinen Lehre, nicht das Wahrecht angelsächsischer Prägung. Das französische System, das in Rede steht, ist komplizierter, aber auch gerechter. Hier wie dort gewinnt nur einer. Aber: Der Weg dorthin bindet in Frankreich mehr Parteien ein. Jeder, der im ersten Wahlgang mehr als zwölfeinhalb Prozent der Stimmen bekommen hat, darf zur Stichwahl antreten, wenn keiner die absolute Mehrheit errungen hat. Und das bedeutet: Es sind Koalitionen nötig, Absprachen, bei denen hin und wieder auch die Kleinen ein Chance bekommen. Mit der Folge, dass sie auch tatsächlich im Parlament vertreten sind. Nur dass die Mehrheiten klarer, die Blöcke definierter sind.

Das klingt bestechend, zumal in Zeiten, in denen sich die meisten noch nicht an ein Fünf-Parteien-System gewöhnt haben. Keine quälenden Koalitionsgespräche zwischen drei Partnern mehr, keine Sorge vor der Unregierbarkeit, kein Zwang zu Großen Koalitionen. Stattdessen: eine Regierung, die umsetzen kann, was sie im Wahlkampf versprochen hat. Und ganz nebenbei: Mit der Linken muss sich nicht auseinandersetzen, wer das nicht will.

Mit anderen Worten: Es klingt nach dem Mehrheitswahlrecht, mit dem man niemandem so richtig wehtun würde. Aber genau das geht eben nicht. Nessi bleibt, was es ist, auch wenn es ein freundlicheres Gesicht trägt. Es bleibt auch bei diesem System dabei: Die Abgeordneten sind nicht mehr Vertreter des ganzen Volkes, sondern ihres Wahlkreises. Es bleibt dabei, dass ein großer Teil der Stimmen unter den Tisch fällt. Es bleibt dabei, dass mit Gewalt Mehrheiten hergestellt werden, die in Wirklichkeit nicht gegeben sind. Und auf andere Weise aber mindestens ebenso sehr wie nach der reinen Lehre führt dieses Wahlrecht zu Lagern statt Netzwerken, zu schwarzen und weißen, sprich: roten statt bunter Antworten. Und damit im Zweifel auch zu weniger differenzierten Lösungen als die Wähler es sind.

Und was die kleinen Parteien betrifft: In Frankreich bekam zum Beispiel 2002 die UMP, die bürgerliche Partei Sarkozys, 62 Prozent der Sitze – bei gerade mal 34 Prozent der Stimmen. Da kann für die Kleinen nur wenig bleiben. In der Auseinandersetzung mit der Linken hätte die Lösung über das Wahlsystem sogar Tradition. Dass in Frankreich 1958 das Mehrheitswahlrecht eingeführt wurde, hatte eben den Grund, die Kommunisten zu schwächen. Erfolgreich – wenn man das Erfolg nennen will. Eine souveräne Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner oder mit dem Wählerwillen war das nicht und wäre es auch hier nicht. Und das wissen auch die Volksparteien. Es wird also noch ein wenig geredet werden in den Berliner Hinterzimmern. Und dann wird Nessi wieder abtauchen, bis zum nächsten Mal.