Sammelband „Oh Boy“

Verlag zieht umstrittenes Buch über Männlichkeit zurück

Verschwommene Umrisse zweier Frauen, die in einem Club tanzen
"Ich habe versucht, seine Hand wegzuziehen, bin aber total auf Widerstand gestoßen". So beschreibt die Frau das, was ihr mit Valentin Moritz in einem Club passiert sein soll, dem RBB. © picture alliance / Zoonar / Max
20.08.2023
Der im Kanon Verlag erschienene Sammelband "Oh Boy" enthält einen Text über männliche Täterschaft von Mitherausgeber Valentin Moritz. Offenbar trotz Protest der vom tatsächlichen Übergriff Betroffenen. Nun stoppt der Verlag die Auslieferung.
Im Juli veröffentlichte der Kanon Verlag den Sammelband „Oh Boy“ mit 18 Texten, die von Männlichkeit im 21. Jahrhundert handeln und sich auch mit männlicher Täterschaft auseinandersetzen. Das Feuilleton feiert das Buch vielfach. Doch der von Mitherausgeber Valentin Moritz selbst beigetragene Text „Ein glücklicher Mensch“ sorgt für Kritik.

Überblick

Worum es in der Debatte um das Buch „Oh Boy“ geht

Valentin Moritz erzählt in seinem Text „Ein glücklicher Mensch“, wie er selbst * gegenüber einer Frau körperlich übergriffig geworden ist. Diese Frau meldete sich daraufhin beim RBB und bei Instagram anonym zu Wort. Sie habe Moritz vor der Veröffentlichung des Buches, auch schriftlich, gebeten, diesen Übergriff nicht literarisch zu verarbeiten. Er habe es trotzdem gemacht.
Skandal um "Oh Boy"

Verlag stoppt Auslieferung des umstrittenen Buches

19.08.2023
07:48 Minuten
Eine Frau streckt ihre Handfläche aus. Symbolbild für den Grundsatz „Nein heißt Nein“, der im reformierten Sexualstrafrecht festgeschrieben ist.
Eine Frau streckt ihre Handfläche aus. Symbolbild für den Grundsatz „Nein heißt Nein“, der im reformierten Sexualstrafrecht festgeschrieben ist.
Sie wirft dem Autor vor, dass er versuche, mit seinem Text Profit aus seiner Täterschaft zu schlagen, und dass er den Vorfall nutze, um sich medial zu profilieren. Das ist laut Deutschlandradio-Literaturrezensent Kais Harrabi auch schon dadurch geschehen, dass Moritz durch anfängliche positive Reaktionen auf seinen Text schon als Vorbild gehandelt wurde, wie man mit der eigenen Täterschaft umgehen könnte. Harrabi kritisiert außerdem, dass in dem Text von Moritz jegliche Opferperspektive fehle.

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Die betroffene Frau wirft Moritz vor, er habe sich klar über ihren Wunsch hinweggesetzt, nicht über den Vorfall zu schreiben, weder fiktional noch autofiktional. Er habe also wiederholt sein Bedürfnis über ihres gestellt. Ihre Vorwürfe finden sich im ersten Kommentar unter folgendem Verlagspost:
Zwei nebeneinander gestellte Screenshots von Instagram zeigen einen Post, in dem der Kanon Verlag den Release des Bandes "Oh Boy" bewirbt und daneben den Kommentar einer Userin, in dem sie zum Boykott des Buches aufruft.
Der Veröffentlichungspost von "Oh Boy" des Kanon Verlags auf Instagram, daneben der Boykott-Aufruf einer Userin, den sie darunter kommentiert hat. (Bildmontage)© Deutschlandradio / Screenshots via Instagram (21.8.2023)
Im Interview mit rbb24 erklärt die von Valentin Moritz' Übergriff mutmaßlich betroffene Frau außerdem, dass Moritz und sein Mitherausgeber Donat Blum schon im Februar 2022 Autoren für ihr Buchprojekt angefragt hätten. Bei Instagram schreibt die vermutlich selbe Frau unter dem Namen „y_walove“, Moritz sei im Mai 2022 sexuell übergriffig geworden.
Diese zeitliche Abfolge kommentiert "kat.ja.thr" auf Instagram:

„Die Idee, ein kritisches Buch über das Patriarchat zu schreiben, existierte also bzw. war im vollen Gange als Valentin Moritz gegenüber der Betroffenen im Mai 22 zum Täter wurde… Einer der Herausgebenden eines solchen Buchprojekts verhält sich -während er Annie Ernaux-Zitate raussucht-, selbst als Täter und schreibt sich seine Tat von der Seele, um sie zugleich auch noch in seinem Buch verwenden zu können.“

Was der Grundgedanke des Buches "Oh Boy" war

Der Sammelband "Oh Boy" mit Beiträgen unter anderem von Friedemann Karig, Kim de l'Horizon und Dinçer Güçyeter will nach Angaben des Verlags "Diskurse und Debatten anstoßen und die Prinzipien männlicher Sozialisation hinterfragen". Dazu gehöre es auch, männliche Täterschaft zu thematisieren. Die Texte seien "mutige Selbstbefragungen" in Zeiten toxischer Männlichkeit und nicht festgelegter Geschlechtsidentitäten.
Die Texte erzählen laut Verlag von männlichem Leistungsdruck, von Männerfreundschaften, Söhnen und ihren Vätern. Sie sollen die Kapitalisierung von Männlichkeit ergründen, Intimität und Verlust beschreiben. Das Feuilleton hat das Buch vielfach positiv aufgenommen: Es sei ein „wichtiger Sammelband“, der „Männlichkeiten zeigt, die schon viel weiter sind, als wir dachten“ urteilt der SWR. Es habe die „berühmt berüchtigte toxische Männlichkeit weit hinter sich gelassen“, so der RBB.
Buch "Oh Boy"

Verschiedene Ausprägungen von Männlichkeit

22.07.2023
06:35 Minuten
Reihe bunter "David"-Köpfe nach Michelangelo
Reihe bunter "David"-Köpfe nach Michelangelo
Die österreichische Tageszeitung "Der Standard" hingegen schreibt von einem "versemmelten Beitrag zur Männlichkeitsdebatte" und für den Literaturkritiker Kais Harrabi war an dem Text von Valentin Moritz problematisch, dass er „eitel“ sei und damit der Thematik von männlicher Täterschaft nicht gerecht werde.

Warum der Verlag die Auslieferung des Buches gestoppt hat

Der Entscheidung des Verlages vorausgegangen war ein vierwöchiger Boykott-Aufruf unter dem Instagram-Post des Verlages zur Veröffentlichung des Buches. Unter „y_walove“ gab eine Nutzerin anonym an, die von Valentin Moritz' Übergriff Betroffene zu sein, und rief zum Boykott auf.
Am 17. August meldete sich Valentin Moritz unter dem gleichen Post bei Instagram zu Wort: Er habe mit seinem Text "einen offeneren, ehrlicheren Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen und männlicher Täterschaft" fördern wollen. Es sein ein literarischer Text, "bei dem genau darauf geachtet wurde, dass er in keiner Weise Privat- und/oder Intimsphäre verletzt."
Er bedauere, dass sich eine Person in seinem Text wiedererkannt habe: "Es tut mir Leid, dass sich diese Person von meiner Veröffentlichung derart getroffen fühlt." Der anonyme Boykottaufruf treffe nun das ganze Buch, vor diesem Hintergrund habe er beschlossen, sich aus dem Projekt zurückzuziehen.
Am 18. August veröffentlichte der Kanon Verlag ein Statement auf der eigenen Website. Darin heißt es, die Veröffentlichung des Buches sei „ein Fehler“ gewesen, die Auslieferung des Buches sei gestoppt. Alle digitalen Formate und Nachauflagen von "Oh Boy" werde es nur noch ohne den Text "Ein glücklicher Mensch" von Valentin Moritz geben.
Gleichzeitig gesteht der Kanon Verlag, vom Autor gewusst zu haben, "dass es eine Betroffene gebe und diese nicht wünscht, dass er einen Text über den Vorfall verfasse." Moritz habe angeboten, sich aus dem "Oh Boy"-Projekt zurückzuziehen. Die Herausgebenden und der Verlag hätten daraufhin "intensiv darüber diskutiert, ob es nicht doch einen Weg geben könnte, dem Nein der Betroffenen zu entsprechen und einen Text über ein Tabuthema zu ermöglichen. (...) Doch dieser Weg erweist sich als nicht richtig. Das ist uns, leider viel zu spät, klar geworden."
In seinem Statement bittet der Kanon Verlag die Betroffene um Entschuldigung.
Männlichkeiten heute

Mithu Sanyal über die Debatte um "Oh Boy"

22.08.2023
07:04 Minuten
Mithu M. Sanyal
Mithu M. Sanyal

Was folgt daraus über "kritische" und "toxische Männlichkeit"?

"Kritische Männlichkeit" ist ein Begriff, der sich erst in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat und eine kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit meint. Laut dem Publizisten Kim Posster steht dabei die individuelle Selbstreflexion konkreter Verhaltensweisen im Mittelpunkt. Also Männer fragten, was sie selbst „richtig machen“ könnten. Für Posster fehlt dabei einerseits eine größere gesellschaftliche Analyse, "die darüber hinausgeht, dass es Diskriminierung gibt und dass man das schlecht findet". Und andererseits fehle die Verbundenheit mit feministischen Kämpfen.
Posster zufolge hat die kritische Männlichkeit deshalb zu Recht den Ruf, dass es dabei oft um ein „identitäres Kreisen der Männer um sich selbst“ geht, um Fragen wie: „Wie können sich Männer wieder gut fühlen?“ Dabei fielen Themen wie männliche Gewalt herunter, kritisiert der Publizist. Das Label „kritische Männlichkeit“ sei deshalb „verbrannt“.
Geschlechterdebatte

Die Kritik der "kritischen Männlichkeit"

27.07.2023
10:23 Minuten
Porträt eines Mannes, der einen hellblauen Luftballon vor sein Gesicht hält.
Porträt eines Mannes, der einen hellblauen Luftballon vor sein Gesicht hält.
Auch Literaturkritiker Kais Harrabi prangert an, der Begriff der "kritischen Männlichkeit" erlaube Männern, "sich als Opfer hinzustellen". Die Stimmen, die eigentlich in einer patriarchalen Gesellschaft unter Sexismus litten, würden dabei übertönt. Gerade im Kontext des Buches "Oh Boy" habe sich das nun bewahrheitet, meint Harrabi.
Aber auch der Begriff der „toxischen Männlichkeit“ hat laut Publizist Kim Posster einen Bedeutungswandel erlebt. Entstanden im Rahmen der MeToo-Debatten 2017 habe der Begriff ursprünglich männlichen Machtmissbrauch skandalisieren sollen. Inzwischen habe sich die Bedeutung verschoben hin zu der Frage: Wie leiden die Männer selber unter Männlichkeit, sagt Posster. Das lasse Fantasien entstehen, dass Männer nur übergriffig würden, weil sie keinen anderen Weg fänden, mit ihren Krisen umzugehen. "Das verharmlost Unterwerfungsinteressen" von Männern, kritisiert Posster.
Den Text von Valentin Moritz im Buch "Oh Boy" nennt Kim Posster ein "Reflexionstheater". Moritz habe nicht ansatzweise "einen sinnvollen Beitrag zur Diskussion um Männlichkeit und Täterschaft" geliefert. Moritz sollte sich die Frage stellen, wie seine männliche Gewalt funktioniere und was dahinter stehe, „und er sollte vor allem Konsequenzen aus den Irritationen ziehen, das Leid der anderen in den Mittelpunkt stellen und nicht seine Sinnfragen."
Kritik an "Oh Boy"-Autor

Nabelschau eines sexuell Übergriffigen

21.08.2023
09:00 Minuten
Ein von dunklen Körperhaaren umgebener männlicher Bauchnabel.
Ein von dunklen Körperhaaren umgebener männlicher Bauchnabel.
Das internationale Literaturfestival in Berlin, das vom 6. bis 16.9.2023 stattfindet hat seine Veranstaltung zu dem Buch "Oh Boy" abgesagt und will stattdessen in einer Alternativveranstaltung der Perspektive der Betroffenen gerecht werden, mit Einverständnis der Betroffenen.
mfied, Kais Harrabi
*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Valentin Moritz hätte in seinem Text von einem Übergriff "in einem Club" geschrieben. Den Ort des Übergriffs erwähnt er dort aber nicht.
Mehr zum Thema