Debatte über "Cancel Culture"

Wie Kampfbegriffe den Diskurs prägen

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Eine Illustration zeigt zwei aus Papierknäueln geformte Köpfe
Reizwörter in öffentlichen Debatten legen auf kürzestem Weg konträre Sichtweisen frei, so Andrea Geier. © imago images / agefotostock
Ein Standpunkt von Andrea Geier · 24.09.2020
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Steht es wirklich schlecht um die Meinungsfreiheit? Kritiker der sogenannten Cancel Culture beklagen das laut und hörbar. Hinter der Behauptung, es gebe Zensur, steckt etwas anderes, meint die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier.
Political Correctness und Identitätspolitik, Verbotskultur und Cancel Culture. Als Reizwörter in öffentlichen Debatten legen sie auf kürzestem Weg konträre Sichtweisen auf unsere Gegenwart frei. Es geht um die ganz großen Themen: Sind Meinungs- und Kunstfreiheit bedroht? Gibt es Sprechverbote?
Beide Male lautet meine Antwort: Nein. Angesichts der Energie und Ausdauer, mit der darüber gestritten wird, muss man allerdings fragen, warum die Vorstellung, Sprechräume seien enger geworden, überhaupt solche Resonanz erhält.

Kein allgemeines Bedrohungsszenario erkennbar

Um die angebliche Gefährdung der Meinungs- und Kunstfreiheit durch Political Correctness zu begründen, werden seit Jahren dieselben wenige Fälle genannt. Ob Avenidas-Gedicht oder Proteste bei einigen Veranstaltungen: Die scheinbar kanonischen Beispiele sind so unterschiedlich gelagert, dass sich daraus kein allgemeines Bedrohungsszenario ergibt.
Dies gilt auch für den jüngst so heftig diskutierten Fall Lisa Eckhart. Warum gelingen Skandalisierungen trotzdem immer wieder?
Die Wiederholung der Debatten ist bereits ein Teil des Problems. Sie erzeugt eine eigene Plausibilität: Wo so viel Rauch ist, muss Feuer sein. Dass sich warnende Stimmen auf demokratische Werte berufen, deren Bedeutung außer Frage steht, verleiht ihnen Gewicht. Beides erklärt jedoch nicht ausreichend, warum selbst ernannte Aufklärer*innen auf Verständnis für offensichtlich überzogenen Alarmismus hoffen dürfen.
Und warum Kritik, wenn sie im politischen Spektrum links angesiedelt wird, so häufig als gewaltsam beschrieben wird. Eine Antwort lautet: Es gibt Veränderungen in der Debattenkultur, und die Rede von Zensur und Sprechverboten ist eine abwehrende Reaktion darauf.

Neue Ansprüche auf Partizipation

Gesellschaftliche Vielfalt ist heute sichtbarer als früher. Mehr Menschen haben und nutzen die Möglichkeiten, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Dabei werden Sprechpositionen, Verhalten, Denkmuster auf neue Weise befragbar.
Es entstehen neue kommunikative Dynamiken und Ansprüche auf Partizipation werden offensiver vorgetragen: Wessen Wahrnehmungen und Erfahrungen zählen? Worüber wird öffentlich debattiert und wer sitzt an welchem Debattentisch? Welche sprachlichen und ästhetischen Formen der Repräsentation sind angemessen? Ist es in Ordnung, die Kultur anderer Menschen als Kostüm zu tragen? Ist es ein Problem, das N-Wort zu verwenden?
Noch vor Jahren war es in journalistischen Berichten üblich, dass rechtsextremistische Gewalt stets als Fremdenfeindlichkeit bezeichnet wurde. Doch Rassist*innen fragen nicht nach Pässen, sie erklären Menschen zu Fremden. Wird es Konsens, Rassismus zu sagen, fallen zunehmend diejenigen auf, die weiterhin von Fremdenfeindlichkeit sprechen. Sie müssen sich fragen lassen, wieso sie ihre Begriffe nicht verändern.

Ein Ringen um mehr als nur Begriffe

In vielen gesellschaftlichen Problemfeldern gibt es solche Konsensbildungen nicht, und es geht auch keineswegs nur um Begriffe. Es wird darum gerungen, was als veränderungsbedürftig angesehen werden sollte.
Mit der Behauptung "Man darf ja gar nichts mehr sagen", mit Begriffen wie Zensur oder Sprechverbot wird versucht, sich diesem erhöhten Begründungsbedarf zu entziehen und Kritik zu delegitimieren. Dass sich dabei auch Menschen, die sich für liberal und aufgeklärt halten, in die Defensive gedrängt sehen, bedeutet nicht, dass Sprechräume durch Political Correctness tatsächlich enger geworden sind.
Wer es für beklagenswert hält, dass er nicht unbehelligt Gehör findet und die eigene Deutungsmacht nicht selbstverständlich anerkannt wird, sollte sich ansehen, wer immer noch darum kämpfen muss, überhaupt gehört zu werden.

Herausforderungen einer vielfältigen Gesellschaft

Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse sind anstrengend und kompliziert, weil Widersprüche und Wertekonflikte unvermeidlich sind. Es stehen sich nicht zwei Parteien gegenüber, von denen die eine für und die andere gegen Konformismus kämpft. Niemand ist aufgefordert, fertige Rezepte zu übernehmen. Wir sind alle aufgefordert, uns zu gesellschaftspolitischen Herausforderungen einer vielfältigen Gesellschaft zu verhalten.
Kritik ist ein Anlass, sich besser zu erklären und Lizenzen, die man für das eigene Handeln in Anspruch nimmt, zu befragen. Damit beginnt die eigene Verantwortung, und sie ist zumutbar.

Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Genderforschung an der Universität Trier. Seit 2010 ist sie im Vorstand des Centrums für Postcolonial und Gender Studies und seit 2020 im Vorstand der Fachgesellschaft Geschlechterstudien.

Andrea Geier posiert für ein Foto.
© privat / Andrea Geier
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