Debatte in den USA

Wissenschaftler streiten über den Begriff "Rasse"

Menschen unterschiedlicher Hautfarbe geben sich die Hand.
Die Einteilung der Menschheit nach Hautfarbe und Kontinent sei willkürlich, sagen Forscher wie Ann Morning und Alan Goodman. © imago / derifo
Von Thomas Reintjes · 12.04.2018
Genetische Unterschiede zwischen "Rassen" könnten nicht länger ignoriert werden, schrieb der Genetiker David Reich in der New York Times. Dafür wurde er heftig kritisiert: Das sei einfach schlechte Wissenschaft, sagt der Bio-Anthropologe Alan Goodman.
Am 23. März 2018 erschien in der "New York Times" ein Meinungsbeitrag von David Reich, einem Genetiker von der Universität Harvard. Reich schreibt unter anderem:
"Es ist einfach nicht länger möglich, die durchschnittlichen genetischen Unterschiede zwischen 'Rassen' zu ignorieren."
Das Wort "Rassen" setzt er in Anführungszeichen:
"Neuere genetische Studien haben Unterschiede zwischen Populationen nicht nur in einfachen Merkmalen wie der Hautfarbe aufgezeigt, sondern auch bei komplexeren Merkmalen wie Körpermaßen oder der Anfälligkeit für Krankheiten."

Genetiker Reich will sich nicht äußern

Reich stand nicht für ein Interview zur Verfügung, um diese Ausführungen zu erklären. Er empfiehlt die Lektüre seines neuen Buchs. In dem Artikel schreibt Reich allerdings auch, dass er gerade verhindern wolle, dass derartige Forschungsergebnisse ideologisch missbraucht werden.
Doch warum er dann selbst von genetischen Unterschieden zwischen "Rassen" - in Anführungszeichen - spricht, bleibt unklar.
Es sei einfach schlechte Wissenschaft, sagt Alan Goodman. Er ist Bio-Anthropologe am New Hampshire College:
"Ich bin Wissenschaftler, Sozialwissenschaftler zwar, aber zuallererst einmal Wissenschaftler. Und wenn ich mir angucke, wie genetische Variation in Menschen aussieht, dann ist es einfach falsch zu sagen, dass sich darin Rassen abbilden."
Goodman war so aufgebracht, dass er einen Leserbrief an die "Times" geschrieben hat. Außerdem hat er einen offenen Brief mitverfasst, den "Buzzfeed" veröffentlicht hat. 67 Wissenschaftler haben ihn unterzeichnet. Dazu gehört auch Ann Morning. Sie forscht an der New York University zum Rassebegriff in verschiedenen Kulturen:
"Wenn man von Rassen spricht, dann kommen die alten Vorstellungen (von/nach Carl von Linné) ins Spiel, dass es eine gelbe Rasse mit diesen Eigenschaften, eine weiße Rasse mit jenen Eigenschaften und so weiter gibt. Diese riesigen Gruppierungen werden der Komplexität von genetischen Variationen bei Menschen aber nicht gerecht, die es da draußen gibt."

Willkürliche Einteilung der Menschheit

Die Einteilung der Menschheit nach Hautfarbe und Kontinent ist willkürlich, sagen beide Forscher. Genauso gut könne man die Menschen nach Nordhalbkugel und Südhalbkugel aufteilen. Oder nach Fans verschiedener Fußball-Mannschaften. Auch dann würde man genetische Variationen finden, die in einer Gruppe häufiger auftreten als in der anderen. Aber sinnvoll sind diese Gruppierungen nicht.
Alan Goodman: "Ich kenne viele Genetiker, die den Begriff Rasse in ihrer Arbeit nicht mehr verwenden. Es gibt also eine Veränderung, die wir in der Anthropologie schon vor 20, 30, 40 Jahren gesehen haben. Vielleicht sind Genetiker ein bisschen langsamer darin zu erkennen, dass genetische Variation nichts mit Rassen zu tun hat. Was ein bisschen überraschend ist, weil sie ja die Daten selbst bereitstellen."
Das heißt aber nicht, dass Rassen nicht existieren würden. Wissenschaftler wie Alan Goodman und Ann Morning sehen Rassen als ein soziales Konstrukt, als etwas, das aus der Gesellschaft entstanden ist.
Ann Morning: "Dass es in der Gesellschaft verwurzelt ist und nicht in der Biologie heißt nicht, dass es nicht real ist. Es ist sehr real, genauso wie Religionsgruppen und religiöse Identität real sind. Menschen leben und sterben für solche Identitäten. Auch wenn sie nicht in unserer Biologie verwurzelt sind. Genauso ist es mit Rassen. Das sind sehr reale Kategorien in unserer Gesellschaft und sie müssen nicht durch unsere DNA vorgegeben werden, um auf diese soziale Art real zu sein."

Säuglingssterblichkeit in den USA als Beispiel

Konkretes Beispiel, wie diese Rassen-Realität in der Gesellschaft aussieht: Die Säuglingssterblichkeit von schwarzen Babys ist in den USA doppelt so hoch wie die von weißen Babys. Dass die Ursache nicht in vermeintlichen biologischen Rassen zu suchen ist, haben Wissenschaftlerkollegen von Alan Goodman gezeigt. Sie haben in Chicago Unterschiede im Geburtsgewicht untersucht.
Alan Goodman: "Das ist ein bisschen kompliziert. Also Frauen, die selbst in Afrika aufgewachsen sind, aber dann in Chicago gebären, bringen Babys zur Welt, die etwa das gleiche Gewicht haben wie Babys von weißen Frauen. Aber wenn sie als Afroamerikanerin aufgewachsen sind, dann ist das Geburtsgewicht ihrer Babys im Durchschnitt 500 Gramm geringer als bei Babys afrikanischer Frauen oder europäisch-amerikanischer Frauen.
Ich denke, das illustriert ganz gut, dass nicht die Genetik wichtig ist, sondern wo man aufwächst. Das ist wohl der Preis, in einer rassistischen Gesellschaft zu leben."
Die Unterschiede sind also darin begründet, dass Menschen immer noch in Rassen denken. In Europa verwenden wir zwar den Begriff nicht, und wir schlackern mit den Ohren, wenn wir hören, wie ungezwungen Amerikaner von "race" reden, wie alltäglich dieser Begriff bei ihnen ist.

Verblüffende Ergebnisse aus Italien

Aber Ann Morning meint, wir bräuchten in Europa einen Begriff dafür. Denn das Denken sei bei uns nicht viel anders. Untersucht hat sie es in Italien:
"In Italien war ich verblüfft, dass obwohl die Leute das Wort Rasse nicht mögen, ihre Ansichten über den menschlichen Körper, über weiße Körper und schwarze Körper genau die gleichen waren wie bei Amerikanern. Was sie glauben, wie sich weiße Menschen und schwarze Menschen unterscheiden, ob sie andere Gene haben, ob sie andere Muskeln haben, all solche Ansichten sind in Amerika und Italien absolut identisch."
Einen Begriff dafür zu haben würde helfen, das Problem der sozialen Ungleichheit zu adressieren. Für Unterschiede in der Genetik gibt es auf jeden Fall passendere Begriffe als den der Rasse. Menschen mit derselben genetischen Variation kann man in Clustern zusammenfassen. Und regionale Unterschiede lassen sich in Populationen abbilden.
Der Begriff der Rasse hingegen lädt Ideologen nur dazu ein, genetische Forschungsergebnisse zu missbrauchen. So geschehen auch im Fall David Reich. Auf rechten Websites wird ihm zu seinem Meinungsartikel gratuliert, weil er angeblich die Existenz von Rassen in unseren Genen bestätigt hat.
Mehr zum Thema