DBG-Studie zu "Präsentismus"

Immer mehr Deutsche schleppen sich krank zur Arbeit

Ein Mann sitzt zwischen Akten und einem Laptop am Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt, vor ihm zerknüllte Taschentücher.(Illustration)
Wer krank ist, gehört ins Bett und nicht an den Schreibtisch. © imago stock&people
Tim Hagemann im Gespräch mit Vladimir Balzer und Axel Rahmlow  · 15.02.2018
Immer mehr Deutsche gehen zur Arbeit, obwohl sie sich krank fühlen. Für diesen verbreiteten "Präsentatismus" macht der Arbeitspsychologe Tim Hagemann mehrere Gründe aus und warnt vor falsch verstandenem Pflichtgefühl.
Etwa zwei Drittel der Beschäftigten in Deutschland sind im vergangenen Jahr trotz Krankheit zur Arbeit gegangen, wie eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) feststellt. Unter den Befragten gaben 67 Prozent an, mindestens an einem Tag arbeiten gegangen zu sein, obwohl sie sich "richtig krank gefühlt" hätten. Fast jeder Dritte gab an, zwei Wochen oder noch länger angeschlagen zur Arbeit gegangen zu sein. Für die Studie wurden vergangenes Jahr 4800 abhängig Beschäftigte befragt.

Vielfalt der Gründe

Die Zunahme des "Präsentismus" erkläre sich unter anderem dadurch, dass sich die Arbeit immer mehr in den Sektor personenbezogener Dienstleistungen verschiebe, sagte der Arbeitspsychologe Tim Hagemann von der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld im Deutschlandfunk Kultur. Dort sei das Phänomen verbreiteter, weil es im Umgang mit Patienten und Kunden schwerer falle, abzusagen. Außerdem seien der Arbeits- und Zeitdruck gestiegen. "Man hat das Gefühl, wenn man jetzt nicht zur Arbeit geht, dann schafft man seine Arbeit nicht, man bekommt sein Projekt nicht fertig." In vielen Jobs sei die Personaldecke dünn geworden. "Es gibt dann keine Möglichkeit, dass irgendjemand einspringt." Aber auch die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz spiele eine Rolle, sagte Hagemann.
Datenlage sei allerdings nicht einfach, weil die Daten nicht einfach zu erheben seien. "Es sind ja immer subjektive Einschätzungen, wie lange oder wie oft bin ich in den letzten 12 Monaten krank zur Arbeit gekommen." Aber es zeige sich, dass es mit Folgekosten einher gehe. "Die Erholung bleibt länger, die Gefahr von chronischen Erkrankungen erhöht sich für die einzelnen Mitarbeitenden."
Gerade in der Grippewelle könnten die Auswirkungen durch die Ansteckungsgefahr gravierend sein, warnte Hagemann. Im Gesundheitswesen etwa sei "Präsentismus" sehr verbreitet – ausgerechnet dort, wo es besonders gefährlich ist, krank zur Arbeit zu gehen.

Falscher Aufopferungsmythos

"Häufig ist es so eine Kultur, das heißt, man schleppt sich dann zur Arbeit und erhöht natürlich auch den Druck bei den anderen", sagte der Psychologe. Es erhöhe den Druck auf andere Kollegen, auch krank zur Arbeit noch zu erscheinen. "Eigentlich braucht man da eine klare Kultur, heute redet man da gerne von Achtsamkeit gegenüber der Gesundheit." Pflichtgefühl werde an dieser Stelle falsch definiert, kritisierte Hagemann. "Man hätte da eher die Pflicht, sich selbst zu schonen, aber auch die Kollegen und Kolleginnen nicht zu gefährden mit einer ansteckenden Erkrankung." Man sollte durch einen falsch verstandenen "Aufopferungsmythos" nicht das Betriebsklima ruinieren.
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