David Lagercrantz: Der Sündenfall von Wilmslow
Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt
Piper Verlag, München 2016, 464 Seiten, 22 Euro
Der Fall Turing als Kriminalroman
Ein sozial Ausgestoßener setzt dem eigenen Leben ein Ende. In "Der Sündenfall von Wilmslow" kombiniert David Lagercrantz historische Fakten und literarische Fiktion. Sein Roman ist vor allem eine posthume Würdigung des genialen britischen Mathematikers Alan Turing.
Die britische Kleinstadt Wilmslow im Sommer 1954. In einer Wohnung wird ein toter Mann in seinem Bett gefunden. Auf dem Küchenherd steht ein Topf mit Kaliumzyanid, der Geruch von Bittermandel durchströmt die Zimmer. Auf dem Nachttisch des Toten liegt ein vermutlich in Zyankali getränkter halber Apfel. Alles am Tatort deutet auf Selbstmord hin. Bei dem Toten handelt es sich um den Mathematiker Alan Turing.
Träge beginnt der lethargische Leonard Corell, Kriminalinspektor bei der Polizei von Wilmslow, den vermeintlichen Selbstmord zu untersuchen. Dieser Alan Turing ist für den Kommissar ein gänzlich Unbekannter. Sein erster Eindruck: Ein intellektueller Sonderling, der mit 41 Jahren noch alleine lebte und schräge Visionen von intelligenten und selbstdenkenden Maschinen hatte. Aber je mehr sich der junge Ermittler mit dem Fall beschäftigt, desto stärker wird nicht nur seine Faszination für die Zahlenwelt des Mathematikers, sondern auch sein Zweifel an der Selbstmordtheorie.
Der verurteilte Kriegsheld Alan Turing
Der Roman beschreibt auch die höchst konservativen Gesellschaftsstrukturen der 1950er in Zeiten des Kalten Krieges. Der Ruhm, den Alan Turing heute posthum erfährt, wurde ihm damals mitnichten gewährt. Im Gegenteil: Der geniale Denker, der den Enigma-Code der Nazis entschlüsselte und als Erfinder der Theorie des modernen Computers gilt, wurde sozial verstoßen: Alan Turings Homosexualität schürte Misstrauen und Feindseligkeiten in der damaligen Gesellschaft.
Vor allem passte es nicht ins Bild eines ehemaligen Mitarbeiters des britischen Geheimdienstes. Alan Turing wurde verurteilt und man ließ ihm die perfide Wahl: Gefängnis oder eine menschenunwürdige Hormontherapie. Er musste sich einer Östrogentherapie unterziehen und erkrankte in der Folge an Depressionen.
Je tiefer sich Kriminalinspektor Corell in den Fall eingräbt, desto mehr wird er von höchster Stelle in seinen Ermittlungen behindert. Es wird immer deutlicher, das sich auch der britische Geheimdienst und das Außenministerium für den Ausgang der Ermittlungen interessieren.
Spurensuche zwischen Fakten und Fiktion
Die Kombination aus historischer Faktenrecherche und Fiktion ist der Motor des Romans. Allein die stark aufgeladene Symbolwirkung des Apfels trägt einen mystischen Teil dazu bei: Als Frucht vom Baum der Erkenntnis, als Sinnbild des Sündenfalls und der Apfel, der Isaac Newton auf den Kopf fiel und ihn so die Schwerkraft entdecken ließ, der Apfel als Computerlogo wie auch der vergiftete Apfel bei Schneewittchen.
Tatsächlich gab es damals spärliche Ermittlungen zum Fall Turing. Durchgeführt vom einem britischen Kriminalinspektor Corttell, der den Fall schnell zu den Akten legte. Der Apfel auf Turings Nachttisch wurde nicht einmal auf Spuren von Zyankali untersucht.
Im Roman hingegen versinkt der fiktive Kriminalinspektor immer tiefer in der Recherche und sieht sich dabei zunehmend mit seinen Vorurteilen wie auch mit seiner eigenen Biografie konfrontiert.
Unkonventioneller Krimi, Sachbuch, Lebensgeschichte
Ein klassischer Krimi oder Thriller ist "Der Sündenfall von Wilmslow" nicht. Auf den über 450 Seiten nimmt sich David Lagercrantz Zeit für ein langsames Erzähltempo, er taucht tief ein in Psychologie, Wissenschaft und in das Zahlenuniversum des Außenseiters und Vordenkers Alan Turing. Sein Roman ist eine gelungen Symbiose aus gründlicher Recherche und fiktionaler Erzählung - vor allem aber eine posthume Würdigung dieses genialen Geistes.