David Gelernter: "Gezeiten des Geistes"

Unser Hirn ist mehr als ein organischer Computer

Computergrafik des menschlichen Gehirns von hinten.
Computergrafik des menschlichen Gehirns von hinten. © imago/Science Photo Library
Von Vera Linß · 02.03.2016
Der Geist lässt sich nicht berechnen, zu der Überzeugung ist David Gelernter gelangt. Rechnen und rationales Denken seien nur ein Teil geistiger Tätigkeit. In "Gezeiten des Geistes" wagt sich der Informatiker auch in die Welt der Träume oder das Unterbewusste vor.
Anfang der 1990er schrieb David Gelernter, Informatikprofessor an der Yale-Universität, ein Computerprogramm für eine medizinische Online-Beratung, das wie ein Mensch agieren sollte. Auf Befehl – so der Plan – sollte es hochkonzentriert für Patienten Röntgenaufnahmen von deren Brustkorb analysieren. Und zwischendurch – ebenfalls nach Anweisung – sollte sich das Programm "entspannen", den "Geist" schweifen lassen und in seine "eigenen mentalen Abenteuer" abgleiten.
Die Idee scheiterte. Was folgt, ist die fast 20-jährige Suche David Gelernters danach, wie menschliches Bewusstsein funktioniert. Ein neues Computerprogramm entwickelt er aus seinen Erkenntnissen nicht mehr. Denn der Geist, so das Fazit des Wissenschaftlers, lasse sich nicht berechnen. Als Beweis dafür präsentiert der renommierte Informatiker nun in "Gezeiten des Geistes. Die Vermessung unseres Bewusstseins" seine eigene Theorie des Geistes – und damit einen Gegenentwurf zur Behauptung, das Gehirn ließe sich mit einem Computer vergleichen und die Vorgänge darin mit einer Software nachbilden.
Seitdem Alan Turing in den 1940er/50er-Jahren erstmals mit künstlicher Intelligenz experimentierte, ist die Vorstellung, eine Maschine könne dasselbe leisten wie das menschliche Gehirn, ungebrochen populär. Dahinter aber, so Gelernters Kritik, stecke der Gedanke, Rechnen und rationales Denken seien das Wesen geistiger Tätigkeit. Dabei sei "Denken" nur ein Teil davon. Der Geist könne auch empfinden und fühlen, er könne "handeln" oder "einfach sein". Vor allem aber sei er ein Gebilde, das permanent seinen Zustand verändere. Der Mensch durchlaufe während eines Tages ein kontinuierliches Spektrum von "Bewusstseinsqualitäten".

Informatiker Gelernter zieht Poeten als Experten heran

Diese "Gezeiten des Geistes" sind der Kern von Gelernters Modell. Drei Ebenen beschreibt er: Die obere (Handlungs-)Ebene, in der zielgerichtetes, abstraktes Denken geschehe. Die mittlere, in der zunehmend Gefühle das Bewusstsein bestimmten. Und die untere (Seins-)Ebene, die Welt der Träume, in der das Unbewusste die Kontrolle habe.
Wie kommt man von einem Bewusstseinszustand in den anderen? Wie genau komprimieren Gefühle und Bilder Erinnerungen? Wie schafft der Geist neue Analogien – als Grundlage für Kreativität? Und warum vergisst der Mensch seine Träume? Auf diese Fragen sucht David Gelernter Antworten. Überraschender Nebeneffekt: Da die Wissenschaft die unterste Stufe des Spektrums "nicht mal ansatzweise" begreife, zieht der Informatiker große Dramatiker und Poeten als Experten für die Tiefen der menschlichen Psyche heran. Shakespeare, Austen oder Nabokov "sind die Leute, die Bescheid wissen", proklamiert er und zündet ein Feuerwerk an Zitaten aus vierhundert Jahren Weltliteratur.
Das ist nicht nur ein großes Lesevergnügen. David Gelernters Theorie erscheint auch plausibel, da man sich selbst in seiner Komplexität und Irrationalität darin wiederfindet. Und auch wenn ein wissenschaftlicher Beweis noch aussteht, ist man dennoch geneigt, Gelernters Resümee zuzustimmen: Die Idee, dass der "Geist" sich künstlich schaffen lasse, sei die (intellektuell) zerstörerischste Analogie der letzten hundert Jahre.

David Gelernter: Gezeiten des Geistes. Die Vermessung unseres Bewusstseins
Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
Ullstein, Berlin 2016
392 Seiten, 22,00 Euro

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