Datenschätze für die Wissenschaft

Die Coronakrise ist eine Chance für die Forschung

07:41 Minuten
Ein Damhirsch-Bock steht am Straßenrand in Lonon bei Nacht.
Wenn das Nachtleben der Menschen ausfällt, ist wieder mehr Platz für Wildtiere in den Städten und Biologen können womöglich neue Erkenntnisse sammeln. © imago images/imagebroker/Jamie Hall
Von Dirk Asendorpf |
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Ist die Pandemie gut fürs Klima? Erobern sich bedrohte Arten Lebensräume zurück? Die Coronakrise hilft derzeit manchen Forschenden, außergewöhnliche Daten zu sammeln. Doch was bleibt vom Boom der Krisenforschung?
Der Lärm eines Passagierflugzeugs ist derzeit selten zu hören. Statt der üblichen rund 30.000 Flüge sind im Moment täglich nur noch knapp 3000 über Europa unterwegs – ein Rückgang um 90 Prozent. "Das ist eigentlich so etwas wie ein Laborexperiment", sagt Markus Rapp, Direktor des Instituts für die Physik der Atmosphäre im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen. Er ist einer von zahlreichen Naturwissenschaftlern, die in der Coronakrise neben allen Problemen auch eine große Chance sehen. Denn in der Ausnahmesituation lassen sich Vergleichsdaten gewinnen, die unter normalen Umständen kaum oder gar nicht erhoben werden können.

"Eine extrem interessante Periode"

Zum Beispiel zu der heftig umstrittenen Frage, wie groß der Klimaschaden des Flugverkehrs ist. Neben dem CO2, das bei der Kerosinverbrennung entsteht, spielen dabei nämlich auch Wolken eine wichtige Rolle. Rapp und sein Team untersuchen derzeit, wie viele Kondensstreifen sich überhaupt noch bilden. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass sich größere Eiswolken bilden. "Das ist aus Sicht der Atmosphärenphysik gerade eine extrem interessante Periode", so Rapp. Er hofft, dass er bei der Quantifizierung der Wetterphänomene auf den Klimawandel ein Stück weiterkommt.

Verdoppelt sich der Klimaschaden des Flugverkehrs durch die Wolkenbildung – oder verdreifacht er sich gar? Bisher gibt es dazu nur Theorien, experimentell ließen sie sich nicht überprüfen. Jetzt liefern die Messgeräte der Atmosphärenphysiker erstmals echte Vergleichsdaten über mehrere Wochen. Zuvor war der Flugverkehr nur nach den Anschlägen des 11. September 2001 und während des isländischen Vulkanausbruchs 2010 für wenige Tage unterbrochen.

Die Erde zittert weniger

Auch Joachim Ritter blickt derzeit mit großem Interesse auf seine Messwerte. Der Geophysiker beschäftigt sich am Karlsruher Institut für Technologie mit den in vielen Regionen Deutschlands auftretenden Mikrobeben. Kleinste Erdbeben, die Menschen nicht wahrnehmen. Denn Schwerlastverkehr oder große Industriebetriebe überlagen die Erdstöße durch eine sogenannte Bodenunruhe. "Je stärker die Bodenunruhe ist, desto schlechter können wir diese Erdbebensignale wirklich messen", so Ritter.
Doch in den letzten Wochen heben sich die Mikrobeben in seinen Messdaten besonders deutlich hervor. Seit dem 16. März nämlich zeigen sie eine Verringerung der Bodenunruhe. "Das hängt direkt mit dem Lockdown wegen Corona zusammen", so der Geophysiker. Die Reduktion, die er beobachte, liege etwa 20 bis 30 Prozent unter den Werten aus Zeiten vor der Pandemie.


Wenn das Nachtleben der Menschen ausfällt, erobern sich Wildtiere neue Freiräume. Füchse und Wildschweine streifen durch leere Straßen, in weniger besuchten Naturschutzgebieten vermehren sich Bodenbrüter ungestört. Auch für Biologen bietet der Lockdown neue Erkenntnisse. Dagmar Schäfer beobachtet den derzeitigen Boom der Forschung über die Krise und in der Krise. Sie leitet das Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. In ihrer Disziplin gebe es die Idee, dass Krisen immer auch Chancen seien. Die Pandemie habe zwei Seiten, da derzeit jeder Daten sammle, um die Situation zu verstehen. "Aber es geht natürlich auch wahnsinnig viel verloren dabei."

Kommunikation in Zeiten der Pandemie

Denn in der Wissenschaft entstehen die besten Ideen oft bei informellen Begegnungen. Und die fallen derzeit weitgehend flach. Als kleinen Ersatz organisiert Dagmar Schäfer eine Internetplattform für das interdisziplinäre Nachdenken über Chancen und Probleme der Forschung in Coronazeiten. Zumindest der direkte fachliche Austausch leide wenig, meint der Atmosphärenphysiker Markus Rapp. Zwar fielen die großen Konferenzen und der persönliche Kontakt weg, aber es gebe dennoch den Austausch über die Landesgrenzen hinweg – etwa über Videokonferenzen. "Die Wissenschaft kommuniziert wunderbar weiter."

Allerdings nur virtuell. Wegen der aktuellen Reisebeschränkungen musste der Geophysiker Joachim Ritter eine Messreihe in der Vulkaneifel, die er mit belgischen Kollegen geplant hatte, erst einmal abbrechen. Und das deutsche Forschungsflugzeug Halo konnte für die im April und Mai geplanten Messungen der chemischen Luftzusammensetzung gar nicht erst starten. Eigentlich sollte die Maschine in Brasilien seien, doch die Mission fiel aus. Zum einen wegen der Kontaktbeschränkungen, die die Arbeitsabläufe im Labor erschweren. Zum anderen hat Brasilien einen Einreisestopp verhängt – das Land ist besonders stark von der Coronakrise betroffen.

Was bleibt von der Krise?

Die Flugzeugmessungen müssen warten, aus Boden- und Satellitenmessungen gibt es aber schon Daten über den Treibhauseffekt ohne Flugverkehr. Für die Berechnung eines Gesamtergebnisses ist es allerdings noch zu früh. Der Grund ist das ausgesprochen trockene und sonnige Aprilwetter über großen Teilen Europas. In der oberen Troposphäre hätten sich keine Kondensstreifen bilden können, sagt Markus Rapp. "Man muss einen langen Zeitraum mit verschiedenen Wetterlagen betrachten, um belastbare Ergebnisse zu erzielen."

Je länger der Flugverkehr pausiert, desto besser können Markus Rapp und seine Kollegen verstehen, welchen Schaden er normalerweise anrichtet. Schon jetzt ist der Atmosphärenphysiker überzeugt, dass die Erkenntnisse aus der Zeit des Corona-Lockdowns dazu beitragen werden, den Luftverkehr langfristig umweltfreundlicher zu organisieren. Etwa, in dem die Maschinen tiefer oder höher fliegen oder einen Umweg nehmen: In besonders kalten Regionen bildeten sich besonders viele Kondensstreifen. "Man kann zeigen, dass mit einer relativ geringen Anpassung der Flugrouten die Klimawirkung um 20 Prozent, vielleicht sogar bis zu 30 Prozent reduziert werden kann."
Dann hätte die Coronakrise durch die Abnahme des Verkehrs und der Industrieproduktion nicht nur kurzfristig zu einer geringeren Schadstoffbelastung der Luft geführt – wie an den aktuellen Messwerten deutlich abzulesen ist. Die Erkenntnisse könnten uns dann sogar dauerhaft nutzen.
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