Das zukünftige Europa aus der Perspektive der Kunst

Von Jürgen König · 06.07.2012
Das Kunstprojekt "Europe (to the power of) n" beschäftigt sich mit europäischen Zukunftsperspektiven. 30 Szenarien, entwickelt von internationalen Künstlern und Kuratoren, bilden den Ausgangspunkt für alles, was Europa potenziell sein könnte. Die Auftaktveranstaltung fand nun in Berlin statt.
Europa gibt es nicht. Es gibt: eine Vielheit von Ländern und Völkern sehr unterschiedlicher Identitäten und Perspektiven. Und es gibt: Vorstellungen eines Europas der Zukunft; Idealvorstellungen, geprägt vom dringenden Wunsch, an die Möglichkeit einer geistigen, politischen, ökonomischen, moralischen und kulturellen Einheit zu glauben. Von dieser These
ausgehend, will das Projekt "Europe (to the power of) n", initiiert und organisiert vom Goethe-Institut in London in Zusammenarbeit mit der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, über europäische Zukunftsperspektiven nachdenken. Sabine Hentzsch, die Direktorin des Goethe-Instituts in London:

"Am Anfang stand auch ein interner Brainstorming-Prozess der Goethe-Institute in Europa, wir fragen uns immer wieder, was machen wir in Europa, was wollen wir künftig ändern? In diesem Brainstorming-Prozess entstand die Idee, unsere lokalen Netzwerke und unser europäisches Netzwerk zu nutzen für ein europaweites Kunstprojekt, das nicht den gängigen Formaten entspricht, sondern hier auch neue Wege sucht."

KünstlerInnen und KuratorInnen aus Großbritannien, Norwegen, Litauen, Polen, Serbien, Weißrussland, Spanien, der Türkei Belgien, China und Taiwan wurden eingeladen, insgesamt 30 Szenarien zu entwerfen. Europa sei so komplex geworden, erzählt Barbara Steiner, die künstlerische Leiterin des Festivals, dass man viele Entwicklungen und Entscheidungen gar nicht mehr nachvollziehen könne, Ratlosigkeit habe sich breitgemacht – genau da setze das Festival an.

"Wir sehen, dass es diese Ratlosigkeit in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen gibt, in der Politik, in der Wirtschaft, aber – in der Kunst gibt es keine Antworten, aber man geht vermutlich, mit dieser Ratlosigkeit anders um. Sie wird zum Anlass genommen, auch als Chance verstanden, Perspektiven zu entwickeln, wie etwas sein könnte – jenseits dessen, was ist. Also zu sagen: ja, wir haben überhaupt keine definitiven Antworten, aber wir werfen Fragen auf und diese Fragen bringen ein Nachdenken über Europa weiter und zwar so, dass es auch als Einladung zu verstehen ist, sich an diesem Suchen nach möglichen Antworten zu beteiligen."

Als Beispiel nennt Barbara Steiner ein Projekt des polnischen Künstlers Janek Simon, der sich nach Auroville aufmachte, in jene Stadt im Süden Indiens, die als "universelle" Stadt konzipiert wurde, die von der UNESCO unterstützt wird, eine Stadt, die niemandem persönlich, sondern der ganzen Menschheit gehört, in der nur leben darf, wer bereit ist dem "Göttlichen Bewusstsein" zu dienen.

"Was passiert, wenn eine Gruppe polnischer Künstler und Künstlerinnen nach Auroville geht, dort mehrere Wochen verbringt, Monate vielleicht und er davon ausgeht, dass polnische Künstler und Künstlerinnen eine sehr negative Weltsicht haben und die auch kultivieren? Also eine pessimistische Weltsicht. Was wird passieren, wenn sie nach Auroville gehen: Wird die die pessimistische Weltsicht dort die harmonische Gemeinschaft negativ beeinflussen oder werden die polnischen Künstler und Künstlerinnen glücklich und zufrieden zurückkommen und sozusagen ihren Pessimismus ablegen ...?"

Die Ergebnisse dieses künstlerischen Fragens und Suchens werden inhaltlich wie formal vielfältig sein. Angekündigt werden Filme, Ausstellungen, Kunstprojekte im öffentlichen Raum, Konferenzen, Vorträge, Unterrichtsprogramme von Universitäten oder Kunsthochschulen, Essays, Bücher. Sie werden bis zum März 2013, jeweils für etwa vier Wochen, in London, Minsk, Lodz, Istanbul, Hövikodden bei Oslo, in Novi Sad, Brüssel, San Sebastian und in Peking zu erleben sein - ein Internetprojekt dokumentiert alle Veranstaltungen. Manche Arbeiten wandern von Ort zu Ort, werden dabei verändert, den lokalen Fragestellungen und Besonderheiten angepasst. So kann ein norwegischer Film über einen Schuljungen, der sich gegen die Regelwelt seiner Schule wehrt und auf Selbstbestimmung pocht, in Norwegen als Kritik am Schulsystem, im weißrussischen Minsk indes als Plädoyer für die Freiheit verstanden werden. Kit Hammonds vom Royal College of Art in London:

"Der ganze Verlauf dieses Projekts repräsentiert für mich auch: Europa. Ein immer weitergehender Dialog zwischen Leuten mit sehr unterschiedlichem Hintergrund und sehr verschiedenen Denkansätzen – sie können ein neues "Gespräch" in Gang setzen; es gibt doch dieses europäische "Wissen umeinander" – das gab es in früheren Zeiten und hoffentlich auch in Zukunft."

Welche Erkenntnisse, Fragestellungen, Perspektiven das jetzt in Berlin vorgestellte Projekt auch immer mit sich bringen wird, ein kühner Entwurf ist es allemal. Und ein wahrlich europäischer.