Das Ziel: Die größte jiddische Website der Welt

Von Dieter Wulf · 02.11.2013
In den 1920er-Jahren hatte die New Yorker Zeitung "Yiddish Vorwaerts" eine tägliche Auflage von 250.000 Stück. Doch heutzutage können viel mehr Menschen Jiddisch sprechen und verstehen als lesen. Trotzdem gibt es die Zeitung noch – und sie will wieder ganz nach oben.
"Ich spreche jiddisch, ich kann es nicht lesen oder schreiben, aber sprechen schon."

Erklärt mir Marina Vinocur, die Empfangsdame in der Redaktion vom Yiddish Vorwaerts. Vor über 20 Jahren kam sie aus der Ukraine nach New York. Und in Russland, meint sie, habe man Jiddisch eben nicht lernen können.

"Ich hab es nie in der Schule gelernt. Nur in der Küche. Küchen jiddisch eben. Aber es genügt, um mit den Abonnenten zu telefonieren."

In den 1920er-Jahren war das Blatt mit einer täglichen Auflage von über 250.000 eine der größten Tageszeitungen der USA. Heute produziert die Redaktion, nur einen Handbreit von der Wall Street entfernt, nur noch alle vierzehn Tage eine gedruckte Zeitung. Die Abonnenten, sind meist zwischen 80 und 90 und immer für ein Schwätzchen zu haben, meint Marina Vinocur und lacht. Das sei ein ganz typisches Beispiel für den Umgang mit der jiddischen Sprache - und damit auch ihrer Probleme, Leser zu finden, erklärt mir Itzig Gottesmann, der stellvertretende Chefredakteur des Yiddish Vorwaerts:

"Das ist das Problem mit einer jiddischen Zeitung. Es gibt sehr viel mehr Leute, die jiddisch sprechen und verstehen als die, die es auch lesen können. Wie zum Beispiel russische Juden, die es nicht in der Schule lernen konnten, sondern es mündlich von den Großeltern lernten. Sie können einem jiddischen Radio zuhören, aber keine jiddische Zeitung lesen."

Bleiben als mögliche Leser noch die orthodoxen chassidischen Juden, meint Itzig Gottesmann:

"Wenn man nach Brooklyn geht, da gibt es ganze jiddische Viertel. In Williamsburg oder Borrow Park hört man nur jiddisch. In Williamsburg unterhalten sich die Kinder auf jiddisch. Da gibt's tausende Kinder, die sprechen überhaupt kein Englisch, und deren Zahlen steigen."

Allein in New York, schätzt Itzig Gottesmann, leben heute etwa 200.000 orthodoxe Juden, von denen die meisten nur jiddisch sprechen. In zwanzig Jahren, werde sich die Zahl sogar verdoppelt haben. Trotzdem seien bisher nur die wenigsten von ihnen Leser des Yiddish Vorwaerts:

"Weil sie uns als Ungläubige ansehen. Die Tatsache, dass wir mal sozialistisch waren. Und wenn dann zum Beispiel 'ne erfundene Geschichte, 'ne Parodie auf Adam und Eva erscheint, davon fühlen sich dann viele beleidigt. Und der Rabbiner sagt, man sollte den Vorwärts wegen solcher Geschichten nicht lesen."

Das aber, meint Itzig Gottesmann, ändere sich gerade.

"Wir leben in New York gerade in einer sehr interessanten Zeit, denn die chassidische Welt wächst sehr stark, und viele von diesen chassidischen Juden fangen an, sich für den "Vorwärts" zu interessieren und sehen in ihm eine Authentizität, eine Echtheit, die sie in ihrer eigenen Welt nicht finden. Was etwas ironisch ist, weil viele Juden wiederum die chassidischen orthodoxen Juden als besonders authentisch ansehen. Aber genau das Gegenteil passiert eben auch."

Besonders die Tatsache, dass man die Zeitung mittlerweile auch online lesen könne, bringe ihnen nun auch immer mehr chassidische Leser, meint Itzig Gottesmann:

"Sie meiden uns bisher, aber viele sind auch interessiert. Man sieht es im Internet. Nicht bei der gedruckten Auflage, aber im Internet. Da gibt es chatrooms und Nachrichten auf jiddisch, an denen man sieht, dass sie ihren Horizont erweitern wollen. Und wir hoffen, dass wir ihnen helfen können, dass wir uns als Plattform für ihre Diskussionen anbieten."

Bestes Beispiel ist der Prozess gegen einen orthodoxen Rabbiner wegen sexuellen Missbrauchs, erklärt die Redakteurin Rachel Schächter, die darüber geschrieben hat:

"Nechemya Weberman wurde des sexuellen Missbrauchs eines Mädchens im Alter von zwölf bis fünfzehn beschuldigt. Er hatte sich bei der Schule als Therapeut für sie ausgegeben."

Ein Geistlicher, beschuldigt des sexuellen Missbrauchs, ist auch in anderen Religionen ein Tabuthema. In der abgeschirmten Welt des chassidischen Judentums aber sei das Schweigegebot besonders stark, meint Rachel Schächter:

"Man sagt nichts Schlechtes über andere Menschen, erst recht nicht über Rabbiner oder jemand in einer Rabbinerfamilie. Und ein sehr wichtiger Teil ihrer Kultur ist es, dass ihre Kinder gut verheiratet werden, und sie haben große Angst davor, dass, wenn sie solche Dinge verbreiten, sie verbannt werden. Dass man nicht mehr mit ihnen redet oder nicht mehr in die Synagoge lässt, das ist eine sehr bedrohliche Vorstellung."

Die Mehrheit der chassidischen Gemeinschaft habe den Rabbiner unterstützt, aber erstmals, so die Journalistin, habe es dagegen öffentlichen Widerstand gegeben.

"Etwa tausend Chassiden kamen zusammen, um Geld für seine Verteidigung zu sammeln. Aber hundert Leute standen draußen und protestierten. Für eine Gemeinschaft, in der man Angst hat, sich zu äußern, ist das schon viel."

Der Rabbiner wurde vor einigen Monaten schließlich von einem New Yorker Gericht zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. In den Zeitungen der chassidischen Gemeinden aber finde man darüber keine Silbe. Anders im "Yiddish Vorwaerts". Doch trotz der journalistischen Erfolge, die Zukunft der Zeitung, glaubt Rachel Schächter, liege im Internet. Und das sei auch die beste Möglichkeit, noch mehr chassidische Leser für ihre Zeitung zu interessieren.

"Auch sie nutzen mehr und mehr Computer und werden uns daher lesen und ihren Freunden davon erzählen. Wir versuchen auch, mehr und mehr chassidische Blogger auf unserer Website zu integrieren. Um dadurch noch mehr chassidische Leser für unsere Zeitung zu interessieren."

Auch Itzig Gottesmann glaubt gerade wegen der Onlineangebote fest an die Zukunft des "Yiddish Vorwaerts":

"Wir haben die neue Website, und unser Ziel ist es, weltweit die wichtigste jiddische Website zu werden. Um Studenten anzusprechen die jiddisch lernen, chassidische Juden genauso wie ältere jiddisch Sprecher. Denn bislang gibt es in der jiddischen Welt so eine zentrale Website noch nicht. Und das versuchen wir."
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