Das Zerfallen der Konservativen

Von Michael Stürmer |
Es wird gebeten, von Beileidsbesuchen abzusehen, und für Nachrufe ist ohnehin es zu früh. Es gibt noch Bürgertum in Deutschland, wenn auch weniger als in manchen Nachbarländern, und es gibt auch noch Konservative, nicht nur vereinzelt.
Nur sind sie neuerdings ein bisschen weinerlich, und die bürgerliche Mitte, es ist wahr, findet im Zeichen der Kanzlerin aus Nirgendwo keine Aktionsform, und dass es einen handlungsfähigen Konservatismus gäbe, ist zu bezweifeln.

Parteipolitisch sind die Konservativen heimatlos. Die Union war nie eine konservative Partei wie etwa die britischen Tories, nicht einmal in der so lange so überaus erfolgreichen Variante in Bayern. Und von Helmut Kohl, da war er schon Kanzler, stammt sogar das schöne Wort: "Im Herzen sind wir alle grün". Im Herzen ja, aber der Verstand verwies auf andere, gegenläufige Interessen - bis Angela Merkel im Handumdrehen und, wie immer alternativlos, das Ende der Atomenergie dekretierte. Doch Konservative wissen von jeher: Es ist noch nicht aller Tage Abend. Das ist ihre Art von Optimismus.

Sag mir wo die Konservativen sind - wo sind sie geblieben? Links der Mitte herrscht Gedränge, vier bis fünf Parteien wollen ernten, wo der Sozialstaat gesät hat, rechts davon herrscht Leere, als sei die Pest auf dem Marktplatz erschienen. Helmut Kohl konnte noch raumgreifend sagen, wo ich bin ist die Mitte, und man nahm es ihm ab. Aber auch er wusste, dass die Union die Stimmen links davon einsammeln musste, und nicht in der Wüste. Symptom der heutigen Lage ist, dass Peter Gauweiler, aus der Franz-Josef-Strauß-Schule kommend, es nicht zum stellvertretenden Parteivorsitzenden der CSU schaffte, obwohl er doch mit seiner Euro-Skepsis rund drei Viertel der Deutschen hinter sich versammeln könnte.

Ob solche Befunde nun allerdings auf die Dauer Vertrauen schaffen in die Vitalität der deutschen Demokratie, das bleibt abzuwarten. Denn heimatlos sind nicht nur die Konservativen - heimatlos ist auch das Bürgertum.

Das 20. Jahrhundert selbst war antikonservativ und antibürgerlich. Die Epoche der Kriege, Inflation und Massentod, Vertreibungen und Fluchten haben dafür gesorgt. Dass es mit der Ära Adenauer noch einmal so etwas wie eine kleine Wiederauferstehung des Bürgerlichen gab, kann als Wunder gelten. Aber auf Wiederholungen ist kein Verlass.

Die Ära Kohl war noch bürgerlich, mehr als die davor liegenden schwankenden Jahre Willy Brandts und Helmut Schmidts. Die Umverteilung indes ging weiter, die Staatsschulden wuchsen unaufhaltsam, und in den Wahlen ging es weniger um Argumente als um handfeste und zunehmend unbezahlbare Versprechen, quer durch das politische Spektrum. Aber Nachhaltigkeit, die doch von Grün bis Rot und Schwarz gepredigt wird, ist längst Illusion, und jeder weiß es. Die Enkel werden es nicht bezahlen, sondern sich der Opa-und-Oma-Republik entziehen, so wie heute schon.

Konservativ ist nicht, wer Besitzstandswahrung gegen alle Imperative der Wirklichkeit verteidigt, ob es um die Rente mit 67 geht, die seit Jahren die Demographie erzwingt, oder um die Globalisierung, die partout kein Mitleid zeigen will mit den Deutschen, und noch weniger mit den im Euro-Boot befindlichen Nachbarn.

Jeder spürt: Wir leben in ungewissen Zeiten, und die Probleme sind größer als die Politiker, die sie doch bewältigen sollen. Wenn aber politische Kommunikation zur Formelsprache verkommt und die Menschen mit ihren Zukunftsängsten allein bleiben, wird konservativer Zweifelgeist gebraucht. Und was die Politik betrifft, so kann allein das liberale Bürgertum mit Selbstverantwortung und Risikobewusstsein zwischen Staatssozialismus und Kasino-Kapitalismus die Soziale Marktwirtschaft noch einmal in der Balance halten.

Michael Stürmer, Historiker - Autor: Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er unter anderem an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne.

1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: ‘Das ruhelose Reich', ‘Dissonanzen des Fortschritts', ‘Bismarck - die Grenzen der Politik' und zuletzt 'Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte'.

Im sogenannten ‘Historikerstreit' entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".
Michael Stürmer
Michael Stürmer© Deutschlandradio / Bettina Straub