"Das Wort Sexualität kam eigentlich in der Ausbildung kaum vor"

Britta Bürger im Gespräch mit Hermann Häring · 23.02.2010
Der emeritierte Theologieprofessor Hermann Häring hat angesichts des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche mehr Transparenz gefordert. Die Kirche benötige bindende Regelungen und unabhängige Klärungsstellen, um sich diesem Problem zu stellen, sagte Häring.
Britta Bürger: Ich entschuldige mich im Namen der katholischen Kirche in Deutschland bei allen, die Opfer eines solchen Verbrechens wurden. Mit diesen Worten trat Erzbischof Robert Zollitsch gestern zum Auftakt der Frühjahrsversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vor die Presse.

Das Thema sexueller Missbrauch wird die versammelten Bischöfe fordern, denn mittlerweile verlangen nicht nur die Opfer absolute Aufklärung – die Gesellschaft insgesamt erwartet, unterstützt von Politikern, konkrete Maßnahmen innerhalb der katholischen Kirche. Am Telefon in Tübingen begrüße ich Hermann Häring. Er ist erimitierter Professor für dogmatische Theologie. Guten Morgen, Herr Häring!

Hermann Häring: Guten Morgen, Frau Bürger!

Bürger: Wie kann es sein, dass die katholische Kirche in einem eigenen Rechtsrahmen agiert, in so einer Art rechtsfreien Raum? Denn wenn überhaupt wurden die Missbrauchsfälle innerhalb der Kirche gemeldet, nicht aber der Staatsanwaltschaft.

Häring: Ja, das ist in der Tat so, die Kirche hat natürlich, das muss man sehen, ein ganz starkes, ein über Jahrhunderte hin ausgebildetes Rechtssystem, ein eigentliches kirchliches Gesetzbuch mit 1700 Paragrafen, und sie selber hat jedenfalls das Gefühl, dass sie ihre rechtlichen Dinge alle gut und korrekt selber ordnet und deshalb immer bei allen Fällen zunächst daran denkt, wie können wir das regeln, und den Rechtsrahmen des Staates oft vergisst.

Bürger: Das ist aber unrechtmäßig, oder?

Häring: Das ist ... Es gibt eine Grauzone. Es gibt eine Grauzone, die hängt mit den Staatskirchenverträgen zusammen, deren entscheidender 1933 mit Adolf, zwischen dem Vatikan und Adolf Hitler abgeschlossen wurde. Hitler, der damals die Kirche brauchte für seine späteren Pläne, auf seine Seite zu ziehen versuchte, hat er eigentlich sehr günstige, für die Kirche günstige Regelungen getroffen, sodass hier einige Dinge sind, in denen die Kirche einfach ihre eigenen Rechte, ihre eigenen Privilegien behalten hat. Man spricht deshalb von einer hinkenden Trennung zwischen Kirche und Staat. Und was dazu kommt, es gibt eine Grauzone, in der eben nichts geregelt wurde.

Und zu dieser Grauzone gehören Verwaltungsvorgänge - das haben wir ja oft auch in starken Körperschaften öffentlichen Rechts, da gibt es eigene Verwaltungsregelungen –, und in dieser Grauzone versucht die Kirche eben auch immer, die Missbrauchsfälle bislang jedenfalls so zu regeln, dass von außen niemand rauskommt. Aber wir haben da gestern gehört von unserer Justizministerin, dass Missbrauch von Kindern ist schlicht und einfach rechtlich gesprochen ein Offizialdelikt, das heißt, die Kirche muss diese Dinge sofort, sobald begründeter Verdacht aufkommt, dem Staatsanwalt melden.

Bürger: Was Sie gesagt haben, heißt, die katholische Kirche hat sich über Jahrhunderte, sagen Sie, Privilegien geschaffen, die sie unantastbar gemacht hat. Wie kann das sein, dass über so viele Jahre an diesen Privilegien nicht gerührt wurde?

Häring: Das hat natürlich mit einer politischen Situation zu tun, in einem demokratischen Rechtsstaat hat jede Partei eigentlich Angst, an solchen grundlegenden Rechten zu rütteln. Das kostet Wählerstimmen.

Und nach aller Erfahrung hatte in den letzten Jahrzehnten, also unserer sozusagen der unserer Republik nach dem Zweiten Weltkrieg, waren es dann eher die SPD zum Beispiel, die Angst hatte, sich mit der Kirche anzulegen, denn sie wollte ja auch die Wählerstimmen der nächsten Wahl haben.

Bürger: Wenn die Kirche als Institution sich diese Privilegien geschaffen hat, die sie unantastbar machen, haben das die Priester und Bischöfe als einzelne Personen auch gemacht, werden die selbst als heilig wahrgenommen, als unantastbar, was ihnen wiederum auch dann Macht verleiht?

Häring: Also auf diesem Rahmen des Rechtes Umgang, das glaube ich eigentlich nicht. Wenn sich also ein Bischof oder ein Priester in anderen Dingen also eklatant gegen Rechtsregelungen verstößt, dann wird er natürlich genauso vom Staatsanwaltschaft zur Verantwortung gezogen wie ein anderer das nicht. Aber viel wichtiger ist die psychologische Funktion im Verhältnis zum Beispiel zwischen Kindern oder Jugendlichen und ihrem Seelsorger, ihrem Pfarrer oder dem Bischof.

Da gilt der katholische Priester in der Tat als eine Art unantastbares heiliges Gefäß, dem man alles vertrauen kann, er verwaltet die heiligen Geheimnisse, um jetzt die Kirchensprache zu übernehmen, ihm kann man sich in allen Dingen öffnen. Und genau das ist ja das Fatale, dass diese Kinder oder Jugendlichen in Situationen missbraucht werden, in der sie voll Vertrauen sich gegenüber dem anderen öffnen.

Der kommt ja nicht von außen, um sie anzupacken, der schleicht sich ja sozusagen ein. Und, was tun dann die kirchlichen Vorgesetzten, wenn es aufkommt? Sie decken das zu, es wird eben, bis jetzt jedenfalls wurde nie, nie an die Opfer gedacht. Es wurde dann immer dafür gesorgt, dass die Dinge mit möglichst wenig Aufsehen geregelt wurden.

Bürger: Es wurde nie an die Opfer gedacht, aber bislang hat sich auch keiner der Täter wirklich bekannt und das Gespräch mit den Opfern gesucht. Woran liegt das denn Ihrer Ansicht nach?

Häring: Es kommt noch ein zweiter Punkt dazu. Also mir fällt jetzt auf, dass alle Missbrauchsfälle, über die jetzt geredet wurden, die sind mehrheitlich, mit großer Mehrheit in den 60er- und in den 70er-Jahren passiert.

Das war eine Zeit, in der die Priesterausbildung und die Ausbildung auch der Ordensleute in sexuellen Dingen null und nichts war. Wir – und ich rechne mich da auch dazu – wurden sozusagen für dumm gehalten, das Wort Sexualität kam eigentlich in der Ausbildung kaum vor. Man hat von Versuchung geredet, man hat gesagt, wenn die Versuchung kommt, müsse man beten oder mehr Disziplin oder sich ablenken.

Bürger: Das sagt der Papst ja jetzt wieder.

Häring: Ja, das ist eben das Fatale, dass diese – wissen Sie, diese psychologische Grundlage, die alles dann so, so, so zudeckt und so muffig macht, dass man da noch eigentlich wenig verstanden hat, was da zu ändern ist.

Ich habe einen Bericht gelesen in der "Zeit" von einem jungen – oder einem älteren Mann inzwischen –, der davon spricht, ein Täter, und der sagt, ja, für mich ist Sexualität ein graues Feld. Genau das trifft es. Die Leute sind aus purer Dummheit in Dinge hereingeschlittert – das entschuldigt nichts, aber es erklärt nur, warum sie sich auch heute noch so also unerträglich abwesend benehmen, sich nicht melden und so tun, als wäre das eine vergangene Geschichte.

Bürger: Was folgt aus dem Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche. Darüber debattiert derzeit die Deutsche Bischofskonferenz in Freiburg, und es ist auch unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Theologen Hermann Häring. Herr Häring, welche konkreten Forderungen stellen Sie jetzt an die katholische Kirche, was erwarten Sie von der jetzt tagenden Bischofskonferenz?

Häring: Also die Bischofskonferenz muss endlich mal bindende Regelungen verabschieden. Bis jetzt hat man Rahmenregelungen verabschiedet, die eigentlich für die Bischöfe nicht bindend waren, und wir wissen das auch, seitdem es die gibt, haben sich einige Bischöfe nicht daran gehalten.

Zweitens: Oberstes Gebot ist absolute Transparenz. Es müssen, sobald begründete Verdächte vorliegen, muss man sagen, es tut mir sehr leid, bei aller Freundschaft, die ich mit Ihnen habe, lieber Herr Pfarrer, aber das muss dem Staatsanwaltschaft gemeldet werden.

Bürger: Wie sollte das aber kontrolliert werden?

Häring: Ja, das ist der dritte Punkt. Wir brauchen unabhängige Klärungsstellen. Es wird ja oft der Begriff jetzt des Ombudsmanns oder der Ombudsfrau eingeführt, das ist eine gute Sache. Zum Beispiel, was jetzt Frau Ursula Raue in Berlin tut, die arbeitet ausgezeichnet, aber warum? Weil sie unabhängig ist sozusagen, die Kirche ist nicht ihr Auftraggeber, weil sie selber sich jetzt so bekannt machen konnte, dass die Leute wissen, ich kann mich ohne weiteren Schaden und ohne für dumm verkauft zu werden, an diese Frau wenden.

Also diese Unabhängigkeit, und zwar diese zwingende Unabhängigkeit ist ungeheuer. Alle Stellen, die wir bis jetzt hatten – ich hörte gestern noch einen Bericht von Österreich, wo das ähnlich liegt –, da hat man Clearingstellen eingerichtet in den Diözesen. Aber was tun dann die Leute? Die reden zuerst mit dem Bischof und sagen, ist das opportun, was sollen wir da tun. Und dann versucht man wieder den Schwamm drüber. Das muss endlich aufhören.

Ein dritter Punkt, das ist die Prävention. Da hat sich vieles geändert, das muss man zugeben, aber noch nicht konsequent. Die Priesterausbildung, die muss offensiv und ganz ausdrücklich die Frage der Sexualität angehen. Die Studenten, die Kandidaten müssen auf Sexualität angewiesen werden, sie müssen sich persönlichen psychologischen sozusagen Untersuchungen, Analysen stellen, um über sich selber Klarheit bekommen.

Es muss geklärt werden, dass sie selber intern Supervisoren oder therapeutische Stellen kriegen, an die sie sich immer wenden können, wenn sie ein Problem ist. Ich persönlich meine allerdings, dass das alles letztlich nicht konsequent zum Erfolg führt, wenn man nicht endlich über den Zölibat redet.

Bürger: Aber darüber wollen die Bischöfe garantiert nicht reden, das haben sie ausdrücklich gesagt.

Häring: Ja, das heißt aber, dass sie das Ausmaß und die Grund- sozusagen -Problematik der Situation noch nicht kapiert haben.

Bürger: Sagt der Theologe Hermann Häring. Zum Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche eines der zentralen Themen der bis Donnerstag tagenden Deutschen Bischofskonferenz. Herr Häring, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Häring: Bitteschön, Frau Bürger!