Das Weltgewissen des Theaters

Von Eberhard Spreng · 02.03.2009
1964 gründet Ariane Mnouchkine zusammen mit ihren studentischen Mitstreitern das Théâtre du Soleil und setzt damit neue Maßstäbe in der Welt des Theaters. Zugleich engagiert sich die Feministin politisch. Ihr Theater soll dabei das Sandkorn sein, "das manchmal große Maschinen ins Stocken bringt".
Wer ins Théâtre du Soleil geht, hat die Chance, dass ihm beim Eintritt in das Theater Frau Ariane Mnouchkine persönlich die Karte abreißt. In all den Jahren, in denen ihr Theater zum Pilgerort für Theaterbegeisterte geworden ist, hat es sich die Sonnentheaterchefin nie nehmen lassen, eine Haltung nach außen zu demonstrieren, die man aus den Kollektiven der 70er-Jahre kennt: Jede Tätigkeit ist wichtig, weg mit Hierarchie, jeder verdient das Gleiche, alle sind Teil einer großen, gleichberechtigten Gemeinschaft. Aber Vorsicht, jeder irrt gewaltig, der glaubt, das Théâtre du Soleil sei ein Mitbestimmungsladen ohne klare Führungsstruktur. Es gibt hier nichts, das die Chefin nicht in der Hand hätte. Frau Mnouchkine ist eine Theaterprinzipalin nach klassischem Vorbild. Ariane Mnouchkine ist also das Théâtre du Soleil, und das Théâtre du Soleil ist Ariane Mnouchkine.

In der Cartoucherie, einem ehemaligen Patronenlager mitten im Grünen, im Bois de Vincennes vor den Toren der Stadt Paris, hat sie nach den Wirren der Studentenunruhen ihre Karavanserai aufgeschlagen. Hier, unter den beiden großen Lagerhallendächern, breitet sie Welttheaterdramaturgien zu großen Ideenreisen aus, leuchten die bunten Stoffe entfernter Kostüm-Kulturen, treten die Akteure verschiedenster Länder auf, in einem bühnenoffenen Spiel, das sich aus fernöstlichen Quellen speist. Hier schminken sich unter den Augen der neugierigen Zuschauer Mnouchkines Schauspieler zu auffälligen Figuren und hier lässt sie, in der Regel auf einem weiten, offenen Bühnekarree, Gestalten der Menschheitsgeschichte ihre Tragödien erleben: Shakespearekönige, kambodschanische Prinzen, die Atriden oder aber Leidtragende in zeitgenössischen Geschichten. Jedes Mal ein Bilderrausch, Kostümrrausch, Farbenrausch, dessen Ursprung in Ariane Mnouchkines Kindheit liegt.

"Mit dem Kasperltheater hat alles angefangen, damals im Krieg in Bordeaux, aber auch das Kino hat mich beeinflusst, was man vielleicht nicht vermuten würde, und dann der Harlekin in Goldonis 'Diener zweier Herren', den Moretti damals spielte. Das fand ich überwältigend. Vor allem aber hat mich als Kind das Puppentheater fasziniert."

Wie eine Reverenz gegenüber dem großen französischen Theatermann Molière war Mnouchkines gleichnamiger berühmter Film zu verstehen, einem der frühen Beispiele für die Wechselgänge zur Nachbarkunst Kino, die Mnouchkine gelegentlich unternommen hat.

Fast 40 Jahre nach "1789", einer ersten legendären Gruppenarbeit unter der Ägide der Sonnentheaterchefin, hat die engagierte Feministin im Welttheaterfundus und oft mit den Stücken der Lebensgefährtin Hélène Cixous die Machtlinien nachgezeichnet, die die Welt der Männer und der Frauen immer wieder blutig färbt.

Einen Höhepunkt fand diese Untersuchung des mörderischen Geschlechterverhältnisses, als Ariane Mnouchkine die Orestie des Aischylos mit der "Iphigenie in Aulis" des Euripides zu einer großen Tetralogie, zu "Les Atrides", verband, einem rauschhaften Theater, in dem Tanz und Horror, Schrecken und Verzückung ineinander übergingen.

"Wir sagten uns immer: Wir arbeiten an Schrecken und Genuss. Das zeichnet die antike Tragödie aus und das ist ihre kathartische Kraft: Die Griechen könnten ihren Schmerz als Gesang, als Tanz zum Ausdruck bringen. Wir mussten bei der Arbeit versuchen, so viel wie möglich zu begreifen, und wo das nicht ging, uns selbst vom Stoff ergreifen zu lassen."

Ariane Mnouchkine hat Verfolgten Asyl geboten und sich für Obdachlose eingesetzt. Sie hat den Kunstraum verlassen, um sich an unmittelbaren Aktionen zu beteiligen. Immer wieder hat sie sich für die Verfolgten, für die Opfer eingesetzt und den politischen Gegner dabei manchmal etwas summarisch im männlichen Geschlecht entdeckt. Vom ewigen Krieg der Geschlechter erzählte sie zuletzt auch in ihrer zeitgenössischen Kollage von Szenen aus dem Alltag, in "Les Éphémères".

Gelegentlich ist Ariane Mnouchkine in ihrem Wechsel zwischen den alten Geschichten und dem Zeitgenössischen etwas gründlich missglückt, verrutschte das politische Engagement auf der Bühne ins Pathetische, schlug Politik ungefiltert in eine Kunstanstrengung um. Wer aber ihre Rosenkriege gesehen hat, also ihren Shakespeare-Zyklus, die Atriden-Tetralogie mit ihrer kathartischen Kraft und ihre schlaue Aktualisierung des Molièreschen "Tartüff" als einem Stück übers ferne nahe Talibanistan oder die berührenden Impressionen über das ephemere Lebewesen Mensch, musste ihr jeden der seltenen Ausrutscher verzeihen. In ihrem Theater konnten viele Zuschauer an ihre Kindheitserfahrungen wieder anknüpfen, weil Ariane Mnouchkine den Glauben in die Kraft der Verzauberung durch die einfachsten Mittel der alten Kunst nicht aufgegeben hat.

"Es besteht die Gefahr, dass wir unsere Sprache verlieren, dass wir passiv werden, käuflich und verkäuflich. Das Theater ist sicher die zerbrechlichste aller Künste. Vor allem aber erinnert das Theater an die Möglichkeit, dass wir gemeinsam die Geschichte des Menschen erforschen. Das Theater erzählt besser als andere Künste vom inneren Feind, dem großen Gegner in uns selbst. Und das Theater kann zum Sandkorn werden, das manchmal große Maschinen ins Stocken bringt."