"Das war ein tiefbleibender Schock"

Moderation: Peter Lange · 25.06.2008
Die Botschafter Tschechiens und der Slowakei in Deutschland, Rudolf Jindrak und Ivan Korcok, haben die Bedeutung des Prager Frühlings für die Entwicklung Europas in den vergangenen vier Jahrzehnten hervorgehoben. Am Ende sei der Fall der Mauer ohne dieses Vorspiel nicht denkbar, sagte Korcok. Als dann die Panzer durch die Straßen rollten, sei das für die Bevölkerung ein Schock gewesen.
Ivan Korcok: Eigentlich sind die Gründe für diese gemeinsame Veranstaltung mehrere, aber die drei wichtigsten sind erstens, wir wollen '68, den Prager Frühling, in die gesamtgeschichtliche Entwicklung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg einreihen und darauf hinweisen, dass mit '53 in Deutschland, 17. Juni '56, in Ungarn '58, bei uns 80er-Jahre, dass alle diese bürgerlichen Aufstände im Endeffekt die Erosion des kommunistischen Lagers bedeutet haben oder dazu beigetragen haben. Und am Ende, und das denke ich, ist auch hier, hört man, in Deutschland ist auch der Fall der Mauer nicht denkbar ohne dieses Vorspiel.

Der zweite Punkt ist unser Dank, den wir zum Ausdruck bringen wollen für die Solidarität, die damals viele Tausende, Zehntausende von Flüchtlingen nach dem russischen Einmarsch gespürt haben, mit welcher Solidarität die Flüchtlinge hier aufgenommen waren. Selbstverständlich war die Solidarität anders im westlichen Teil Deutschlands und anders im östlichen. Im westlichen war das nicht nur die bürgerliche Solidarität, sondern auch die politische Solidarität. Während in der DDR waren es viele Zeichen der Solidarität von den Bürgern, aber selbstverständlich eine hysterische Angst der Ulbricht-Führung, die Angst hatten der Destabilisierung im gesamten kommunistischen Lager.

Peter Lange: Herr Botschafter Jindrak, für Sie als diplomatischen Vertreter Tschechiens, welche Bedeutung und welchen Symbolwert hat diese Veranstaltung heute in Berlin?

Rudolf Jindrak: Für mich hat das einen Wert, weil dieses Jahr, das Jahr 1968, ist ein fester Bestandteil von der tschechoslowakischen Geschichte. Und damit haben die Leute, nicht nur die Politiker, die damaligen Politiker, aber ganz normal einfache Leute in den Straßen gezeigt, nein, wir wollen eine solche Entwicklung nicht haben und wir sind auch bereit und wir sind auch fähig, etwas dagegen zu tun. Das heißt, das Jahr 1968 hat für mich eine sehr große symbolische Bedeutung.

Lange: Es ist immer vom Prager Frühling die Rede, aber die Symbolfigur dieser Reformphase, Alexander Dubcek war Slowake. Ist das nicht ein bisschen ungerecht, wenn dieser Teil der Geschichte immer nur mit Prag und mit Tschechien in Verbindung gebracht wird?

Korcok: Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen, weil das war auch in der damaligen Zeit, als wir noch zusammengelebt haben im gemeinsamen Staat, dass immer wenn es um die Tschechoslowakei ging, dann hat man von außen her immer den gemeinsamen Staat als Tschechien identifiziert. Aber wenn wir über das Jahr 1968 sprechen und das Gesicht dieses Prager Frühlings, Alexander Dubcek, dann hat das insbesondere damals keine Rolle gespielt, weil er Vertreter des gemeinsamen Staates war. Und ich denke, 15 Jahre nach der Trennung, wenn es immer noch passiert, dass die Slowakei irgendwie hier ein bisschen im Schatten steht, ist es nicht so wichtig. Viel wichtiger ist es, dass wir 15 Jahre nach der Trennung durchaus in der Lage sind, an die gemeinsame Geschichte in unserem früheren Staat sich zu erinnern. Und übrigens, das ist eines der Vorhaben, das wir haben mit dieser gemeinsamen Veranstaltung.

Lange: Herr Jindrak, den Reformern von damals ging es um die Demokratisierung des Sozialismus, nicht um Demokratie und Freiheit an sich. Wie wird diese Reformphase heute von der nächsten, jüngeren Generation gesehen, der Sie auch beide angehören?


Jindrak: Ja, diese Frage spaltet ein bisschen die tschechische Gesellschaft im Moment, ich denke auch, vielleicht in der Slowakei. Das war nur eine Bewegung in der kommunistischen Partei, das stimmt nicht. Das war wirklich eine gesellschaftliche Bewegung. Und diese Bewegung wurde damals mit den russischen Panzern und mit den Panzern von den Truppen von dem Warschauer Pakt unterbrochen oder zerschlagen. Da denke ich, für die ganze damalige tschechoslowakische Gesellschaft hat dieses Ereignis oder diese ganze Zeit, nicht nur vom Prager Frühling 68, aber noch viel mehr früher eine sehr wichtige Bedeutung gespielt.

Lange: Der Prager Frühling endete in der Nacht vom 20. auf den 21. August 68 mit dem Einmarsch der Warschauer Pakttruppen unter Führung der Sowjetunion. Herr Botschafter Korcok, inwieweit belastet dies auch heute noch die Beziehungen etwa zu Russland?

Korcok: Es belastet die Beziehungen nicht, würde ich sagen, weil seitdem, seit 1968 ist sehr viel passiert. Wir sind jetzt Mitglied in der Europäischen Union. Wir sind Mitglied in der NATO. Und ich denke, auch in Russland selbst oder damals in der Sowjetunion noch unter Gorbatschow nach 1985 mit Perestroika hat man auch eigene Geschichte reflektiert, kritisch beurteilt. Und deswegen sind unsere Beziehungen heute zu Russland zukunftsorientiert, dass es emotional immer noch insbesondere in der Generation tief geblieben ist, die noch heute lebt und die diese Zeit miterlebt hat. Ich kann mich erinnern an die Gefühle meiner Eltern, das war ein Schock, als die Panzer damals in der Nacht durch die Straßen gerollt sind. Das war ein Schock. Und das ist sehr tief geblieben. Aber im Politischen ist es überwunden, im Emotionalen ist es für jeden Menschen seine eigene Wahrnehmung.

Lange: Die ostdeutsche Bürgerrechtler, die sich mit großen Opfern und persönlichen Risiken für die Demokratisierung der DDR eingesetzt haben, die sind heute bei uns weitgehend marginalisiert. Wie ist das mit den tschechischen und slowakischen Helden von damals? Die Revolution ist ja auch weit über das hinausgegangen, was 68 gewollt war.

Jindrak: In den tschechischen, aber auch in der slowakischen Republik sind diese Helden, das kann so sagen, wirklich sehr anerkannt. Das betrifft alle die Juden, nach 89 rehabilitierten, und die haben sich, manche von diesen führenden Figuren von 68, direkt nach dieser Revolution in 89 im politischen Leben, haben sich engagiert. Nur ein Beispiel für alle oder zwei Beispiele war der Alexander Dubcek, schon erwähnt. Er war der Vorsitzende von den tschechoslowakischen föderalen Parlament, Jiri Dienstbier zum Beispiel, der erste demokratische Außenminister von der damaligen Tschechoslowakei. Ich denke, diese Leute haben auch einen eigenen Platz gefunden, die haben auch nachher, nach 89, eine sehr wichtige Rolle im politischen Leben von der damaligen Tschechoslowakei gespielt.

Lange: Tschechien und die Slowakei gehören inzwischen der NATO und der Europäischen Union an. Beide Länder prosperieren auch dank finanzieller Hilfen der EU, und trotzdem tut sich Tschechien im Moment schwer, mit der Ratifizierung des EU-Vertrages von Lissabon. Da steht noch ein Gutachten des Verfassungsgerichts aus. Botschafter Jindrak, was genau finden die Tschechen an diesem Vertrag so problematisch?

Jindrak: Dieses Verfahren wird ungefähr auch Oktober, November abgeschlossen. Manche sagen da, die Tschechen sind die Euro-Skeptiker. Ich denke, das stimmt auch nicht ganz. Die Tschechen sind Euro-Realisten, das ist das richtige Wort. Und ich denke, mehrheitlich ist die tschechische Gesellschaft für Europa, für die Europäische Union. Aber das ist auch eine Aufgabe von den Politikern, die müssen auch dieses Europa erklären. Und das ist wirklich sehr schwierig. Ich bin auch in dieser Hinsicht optimistisch. Das heißt, die tschechische Republik wird den Lissabonner Vertrag ratifizieren.

Lange: In der Slowakei gibt es diese Bedenken nicht, die in Tschechien erhoben werden?

Korcok: In der breiten Gesellschaft oder insgesamt, als man den Vertrag diskutiert hat bei uns, hatten wir zum Beispiel, um den Leuten besser zu erklären, was da steht, haben wir unseren nationalen Konvent eingeführt. Und es gab in diesem Konvent durchaus eine gesellschaftliche Diskussion. Es stimmt aber, das sieht man an den Umfragen, dass wir Slowaken einfach sehr Europa-begeistert sind. Und ich denke, das, was jetzt im Vordergrund steht in Bezug auf die Europäische Union, ist zuerst mal die Anerkennung, dass uns die Europäische Union sehr viel gebracht hat. Und das ist das Wichtigste in der Wahrnehmung unserer Bevölkerung.

Und zum Zweiten, denke ich, spielt auch eine Rolle die Tatsache, dass wir ab 1. Januar nächsten Jahres den Euro einführen. Das heißt, es dominieren sozusagen die Gefühle und all das, was der Staat noch in der Vorbereitung machen musste. Und deshalb, denke ich, ist es viel mehr in den Köpfen unserer Bevölkerung, wo es durchaus auch Bedenken gibt, auch Unsicherheiten, was es bedeutet, weil Leute sehen dem Euro mit großer Freude entgegen, aber auf der anderen Seite auch ein bisschen mit Angst, was es im sozialen Bereich bringt.

Lange: Herr Botschafter Jindrak, Herr Botschafter Korcok, ich danken Ihnen sehr herzlich für das Gespräch!