"Das war die Liquidierung des Rock ’n’ Roll"
Vor ziemlich genau 30 Jahren erschien die erste Single der Sex Pistols und löste damit eine kulturelle Revolte der Jugendlichen aus. Der Punk habe das Ende des Rock 'n' Roll bedeutet, sagte der ehemalige Musikjournalist Joachim Lottmann. Bei der Musik der Sex Pistols oder Ramones sei es um ein neues Lebensgefühl gegangen.
Dieter Kassel: Ende November 1976 erschien in England die erste Single der Sex Pistols "Anarchy in the UK". Das war nicht das erste Lebenszeichen des Punk überhaupt, aber es war der Beginn des Siegeszugs der Punkbewegung, nicht nur in der Musik und auch nicht nur in Großbritannien.
Joachim Lottmann gilt inzwischen unter anderen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als der Erfinder der Popliteratur. Erfunden hat er dieselbe schon 1987 mit seinem Buch "Mai, Juni, Juli", hat danach noch weitere Bücher geschrieben. Er war aber 1976 noch hauptberuflicher Musikjournalist und hat für die damals angesagteste deutsche Musikzeitschrift "Sounds" in Hamburg geschrieben. Joachim Lottmann, wann, wie und wo haben Sie denn dieses Ding "Anarchy in the U.K." das erste Mal gehört?
Joachim Lottmann: Ich habe es direkt gehört im November 76, und das hat mich so umgehauen wie wahrscheinlich früher Leute, als sie die erste Beatles-Platte gehört haben, irgendwie.
Kassel: War es damals für Sie erstmal Punk, die Sex Pistols speziell - Ramones war vorher schon, ein paar Monate vorher bekannt geworden - war es für Sie damals nur eine sehr, sehr neue Musik, oder hatten Sie von Anfang an das Gefühl, da passiert mehr als nur Musik?
Lottmann: Ja, natürlich dachte ich, das ist etwas ganz anderes, das ist die Liquidierung des Rock ’n’ Roll, wie er vorher gewesen ist und wie ich ihn aus ganzem Herzen immer gehasst habe. Also alles wofür Rock ’n’ Roll gestanden hat, oder Hardrock war glaube ich die bessere Bezeichnung, habe ich unerträglich ekelhaft gefunden. Dieses Ölige und Schmierige und Männerhafte, Langhaarige, Bodenständige, Sentimentale, Kitschige. All das war ja eben Punk überhaupt nicht und deswegen war es für mich die Befreiung überhaupt.
Kassel: Gab es über das was da mit den Sex Pistols, mit den Ramones, plötzlich 76 auch nach Deutschland kam - was Sie da bei "Sounds" natürlich sofort bemerkt haben - gab es in der Redaktion, bei Freunden, bei Menschen in der Szene, Diskussionen?
Lottmann: Es war von der ersten Sekunde an klar, dass es etwas ganz Tolles ist, und dass die Welt darauf gewartet hatte. Also es begann damit dass eine Redakteurin, die kam mit einem Ramones-T-Shirt schon im Sommer, ich glaube sogar es war im Frühsommer 76, rein und sie hatte so ein Unterhemd an, da war irgendwie etwas von den Ramones draufgedruckt. Und bis zu dem Zeitpunkt wussten wir überhaupt nicht, dass es T-Shirts gab oder sie später einmal eine kulturelle Bedeutung gewinnen würden. Wir haben uns gewundert, warum die ein Unterhemd anhat und dass da etwas draufgedruckt war, und deswegen hielten wir erst einmal Ramones für irgendetwas anderes, aber nicht für Musik. Das hat sich dann erst vier Wochen später - irgendwie kam dann die Platte auch in die Redaktion rein und hat allen sofort gute Laune gemacht.
Kassel: Wie wichtig waren die Texte? Nehmen wir einmal, das ist ja der Anlass heute, vor halbwegs genau dreißig Jahren, kam dieses Sex-Pistols-Stück, das erste, "Anarchy in the U.K." raus. "I am the Antichrist", das kennt man immer noch als Textzeile, aber auch schon der Titel, Anarchie im Vereinigten Königreich. Wie ernst waren die Texte damals zu nehmen, auch aus Sicht von Ihnen damals, bei "Sounds"?
Lottmann: Null, gar nicht. Das war eben das Tolle, dass man auf diese Scheißtexte nicht mehr achten musste. Das war ja diese ekelhafte Ernsthaftigkeit der Musik davor, dass man immer irgendwie auf der Plattenhülle die Texte mitlesen musste und dass sie alle etwas bedeuteten, was die da vorgetragen haben, die Herren Künstler. Und bei den Ramones vor allen dingen war es irgendwie klar, dass es völlig wurscht ist, was sie da singen, dass es um das Lebensgefühl geht, das damit vermittelt wird.
Kassel: Wenn man mit einem Punker über Punk redet, dann wird der einem glaube ich jederzeit auch erzählen, dass Punkmusik da ein wichtiger Teil davon ist, aber nicht das Ganze. Was war denn Punk damals in den späten 70ern noch, jenseits der Musik?
Lottmann: Na ja, ich behaupte ja die ganze Zeit, dass es gar nicht so um die Musik ging, sondern um die Werte, die da ausgetauscht wurden. Und es ging um Humor, es ging um eine nicht biologistische, nicht folkloristische, nicht ökologische Lebensweise, sondern Punks waren lustig, sie haben Sex nicht so bierernst genommen, sie haben gerne Zeitschriften gelesen, sie haben gerne geredet, sie haben Softdrogen verabscheut. Sie fanden es lustiger, fünf Flaschen Becks Bier zu trinken und dabei sich intensiv zu unterhalten, anstatt irgendwie am Joint zu ziehen und in irgendwelche Nebel der Geistlosigkeit zu versinken.
Kassel: Sie sagen immer die waren - wann war denn Punk vorbei aus Ihrer Sicht? Oder ist es gar nicht vorbei?
Lottmann: Also ich habe Punk von Anfang an als den Beginn der neuen Zeit angesehen. Zu dieser neuen Zeit gehörten genauso eben auch Blondie und Talking Heads, was dann später New Wave wurde, und auch Neue Deutsche Welle dann. Das haben wir ja im Grunde erfunden, da bei "Sounds" und bei "Spex". Da war Punk irgendwie eine Fraktion davon und das hat ungefähr bis 1984 gedauert.
Kassel: Sie sagen jetzt so ganz fest 1984, ich kenne immer diverse Daten. Der eine sagt, es ist immer noch nicht vorbei, weil, Leute, die glauben, sie seien Punks, gibt es ja heute noch. Was ist denn mit den Leuten, die wir in mittelgroßen Städten in Deutschland sehen, die immer noch die entsprechenden Frisuren haben, und so ein bisschen aussehen wie Punks, sind das Spinner?
Lottmann: Ja, das sind Spinner. Das sind Retro-Leute, das sind praktisch Hülsen, wenn Sie so wollen, das Gegenteil von dem, was die eigentlich damals waren. Also alles, was außerhalb der Zeit einfach nur die Form weiterführt, ist ja immer lächerlich.
Kassel: Werden wir einmal ein bisschen persönlich an dieser Stelle. Damals - ich darf das sagen, so wie Sie jetzt vor mir sitzen, weißes Hemd, Krawatte, Jackett drüber. Haben Sie damals, was weiß ich, von 76 bis 82, in der Hardcore-Phase des Punks, selber auch mitgespielt? Also mitgespielt nicht an der Gitarre, aber sahen Sie auch so aus, wie die Punks?
Lottmann: Nein, ich sah so aus wie heute.
Kassel: Das heißt, Sie haben damals Punk, so habe ich das jetzt bisher gewertet, ja doch toll gefunden, in Anzug und Krawatte?
Lottmann: Ja, das wirkte damals außerordentlich provokativ. Sie müssen sich vorstellen, dass ich ja damals dünn war wie ein Bulimie-Modell. Und jemand, der so dünn ist wie Kate Moss und dann aber mit Anzug und Krawatte herumläuft, das war schon eine angenehme Art sich zu kleiden, wenn man bedenkt, dass damals doch ungefähr 90 bis 93 Prozent der Jahrgangsgenossen mit Schmuddelparker und Turnschuhen und Bart und verfilzten Haaren herumgelaufen sind.
Kassel: "Anarchy in the UK", vor ziemlich genau 30 Jahren erschienen, ein Jahr später dann das erste und eigentlich einzige richtige Album von den Sex Pistols. Nehmen Sie mal irgendeine Band, die jetzt im Jahr 2006 möglicherweise sogar kommerziell erfolgreich ist, oder zumindest bei den Musikjournalisten erfolgreich ist. Wo steckt da noch der Punk.
Lottmann: Ja, bei den Trash Girls zum Beispiel, die ich am Wochenende gesehen habe, hier in Berlin, da habe ich mir gedacht: Vier wahnsinnig gut aussehende Pornodarstellerinnen - kann das wirklich ernst genommen werden? Aber dann haben sie eben sich so schamlos irgendwie auf diese Punkelemente geworfen, dass es wieder so etwas Unkritisierbares bekam. Diese Wildheit und diese ausgestellte Exzentrik, dagegen kann man doch einfach nichts sagen. Wie soll man da mit dem Nörgeln anfangen? Es wäre wirklich absurd, genauso könnte man jemanden kritisieren wollen, der gerade einen Lachkrampf kriegt oder so. Das ist so elementar, das kann man intellektuell nicht wegdrücken.
Kassel: Im Gespräch in Deutschlandradio Kultur Joachim Lottmann, heute vor allen Dingen Buchautor und Essayist, damals, 1976, Musikjournalist und Schreiberling bei der Zeitschrift "Sounds". 1976, das Jahr, in dem die erste Single der Sex Pistols "Anarchy in the U.K." in die Läden kam.
Joachim Lottmann gilt inzwischen unter anderen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als der Erfinder der Popliteratur. Erfunden hat er dieselbe schon 1987 mit seinem Buch "Mai, Juni, Juli", hat danach noch weitere Bücher geschrieben. Er war aber 1976 noch hauptberuflicher Musikjournalist und hat für die damals angesagteste deutsche Musikzeitschrift "Sounds" in Hamburg geschrieben. Joachim Lottmann, wann, wie und wo haben Sie denn dieses Ding "Anarchy in the U.K." das erste Mal gehört?
Joachim Lottmann: Ich habe es direkt gehört im November 76, und das hat mich so umgehauen wie wahrscheinlich früher Leute, als sie die erste Beatles-Platte gehört haben, irgendwie.
Kassel: War es damals für Sie erstmal Punk, die Sex Pistols speziell - Ramones war vorher schon, ein paar Monate vorher bekannt geworden - war es für Sie damals nur eine sehr, sehr neue Musik, oder hatten Sie von Anfang an das Gefühl, da passiert mehr als nur Musik?
Lottmann: Ja, natürlich dachte ich, das ist etwas ganz anderes, das ist die Liquidierung des Rock ’n’ Roll, wie er vorher gewesen ist und wie ich ihn aus ganzem Herzen immer gehasst habe. Also alles wofür Rock ’n’ Roll gestanden hat, oder Hardrock war glaube ich die bessere Bezeichnung, habe ich unerträglich ekelhaft gefunden. Dieses Ölige und Schmierige und Männerhafte, Langhaarige, Bodenständige, Sentimentale, Kitschige. All das war ja eben Punk überhaupt nicht und deswegen war es für mich die Befreiung überhaupt.
Kassel: Gab es über das was da mit den Sex Pistols, mit den Ramones, plötzlich 76 auch nach Deutschland kam - was Sie da bei "Sounds" natürlich sofort bemerkt haben - gab es in der Redaktion, bei Freunden, bei Menschen in der Szene, Diskussionen?
Lottmann: Es war von der ersten Sekunde an klar, dass es etwas ganz Tolles ist, und dass die Welt darauf gewartet hatte. Also es begann damit dass eine Redakteurin, die kam mit einem Ramones-T-Shirt schon im Sommer, ich glaube sogar es war im Frühsommer 76, rein und sie hatte so ein Unterhemd an, da war irgendwie etwas von den Ramones draufgedruckt. Und bis zu dem Zeitpunkt wussten wir überhaupt nicht, dass es T-Shirts gab oder sie später einmal eine kulturelle Bedeutung gewinnen würden. Wir haben uns gewundert, warum die ein Unterhemd anhat und dass da etwas draufgedruckt war, und deswegen hielten wir erst einmal Ramones für irgendetwas anderes, aber nicht für Musik. Das hat sich dann erst vier Wochen später - irgendwie kam dann die Platte auch in die Redaktion rein und hat allen sofort gute Laune gemacht.
Kassel: Wie wichtig waren die Texte? Nehmen wir einmal, das ist ja der Anlass heute, vor halbwegs genau dreißig Jahren, kam dieses Sex-Pistols-Stück, das erste, "Anarchy in the U.K." raus. "I am the Antichrist", das kennt man immer noch als Textzeile, aber auch schon der Titel, Anarchie im Vereinigten Königreich. Wie ernst waren die Texte damals zu nehmen, auch aus Sicht von Ihnen damals, bei "Sounds"?
Lottmann: Null, gar nicht. Das war eben das Tolle, dass man auf diese Scheißtexte nicht mehr achten musste. Das war ja diese ekelhafte Ernsthaftigkeit der Musik davor, dass man immer irgendwie auf der Plattenhülle die Texte mitlesen musste und dass sie alle etwas bedeuteten, was die da vorgetragen haben, die Herren Künstler. Und bei den Ramones vor allen dingen war es irgendwie klar, dass es völlig wurscht ist, was sie da singen, dass es um das Lebensgefühl geht, das damit vermittelt wird.
Kassel: Wenn man mit einem Punker über Punk redet, dann wird der einem glaube ich jederzeit auch erzählen, dass Punkmusik da ein wichtiger Teil davon ist, aber nicht das Ganze. Was war denn Punk damals in den späten 70ern noch, jenseits der Musik?
Lottmann: Na ja, ich behaupte ja die ganze Zeit, dass es gar nicht so um die Musik ging, sondern um die Werte, die da ausgetauscht wurden. Und es ging um Humor, es ging um eine nicht biologistische, nicht folkloristische, nicht ökologische Lebensweise, sondern Punks waren lustig, sie haben Sex nicht so bierernst genommen, sie haben gerne Zeitschriften gelesen, sie haben gerne geredet, sie haben Softdrogen verabscheut. Sie fanden es lustiger, fünf Flaschen Becks Bier zu trinken und dabei sich intensiv zu unterhalten, anstatt irgendwie am Joint zu ziehen und in irgendwelche Nebel der Geistlosigkeit zu versinken.
Kassel: Sie sagen immer die waren - wann war denn Punk vorbei aus Ihrer Sicht? Oder ist es gar nicht vorbei?
Lottmann: Also ich habe Punk von Anfang an als den Beginn der neuen Zeit angesehen. Zu dieser neuen Zeit gehörten genauso eben auch Blondie und Talking Heads, was dann später New Wave wurde, und auch Neue Deutsche Welle dann. Das haben wir ja im Grunde erfunden, da bei "Sounds" und bei "Spex". Da war Punk irgendwie eine Fraktion davon und das hat ungefähr bis 1984 gedauert.
Kassel: Sie sagen jetzt so ganz fest 1984, ich kenne immer diverse Daten. Der eine sagt, es ist immer noch nicht vorbei, weil, Leute, die glauben, sie seien Punks, gibt es ja heute noch. Was ist denn mit den Leuten, die wir in mittelgroßen Städten in Deutschland sehen, die immer noch die entsprechenden Frisuren haben, und so ein bisschen aussehen wie Punks, sind das Spinner?
Lottmann: Ja, das sind Spinner. Das sind Retro-Leute, das sind praktisch Hülsen, wenn Sie so wollen, das Gegenteil von dem, was die eigentlich damals waren. Also alles, was außerhalb der Zeit einfach nur die Form weiterführt, ist ja immer lächerlich.
Kassel: Werden wir einmal ein bisschen persönlich an dieser Stelle. Damals - ich darf das sagen, so wie Sie jetzt vor mir sitzen, weißes Hemd, Krawatte, Jackett drüber. Haben Sie damals, was weiß ich, von 76 bis 82, in der Hardcore-Phase des Punks, selber auch mitgespielt? Also mitgespielt nicht an der Gitarre, aber sahen Sie auch so aus, wie die Punks?
Lottmann: Nein, ich sah so aus wie heute.
Kassel: Das heißt, Sie haben damals Punk, so habe ich das jetzt bisher gewertet, ja doch toll gefunden, in Anzug und Krawatte?
Lottmann: Ja, das wirkte damals außerordentlich provokativ. Sie müssen sich vorstellen, dass ich ja damals dünn war wie ein Bulimie-Modell. Und jemand, der so dünn ist wie Kate Moss und dann aber mit Anzug und Krawatte herumläuft, das war schon eine angenehme Art sich zu kleiden, wenn man bedenkt, dass damals doch ungefähr 90 bis 93 Prozent der Jahrgangsgenossen mit Schmuddelparker und Turnschuhen und Bart und verfilzten Haaren herumgelaufen sind.
Kassel: "Anarchy in the UK", vor ziemlich genau 30 Jahren erschienen, ein Jahr später dann das erste und eigentlich einzige richtige Album von den Sex Pistols. Nehmen Sie mal irgendeine Band, die jetzt im Jahr 2006 möglicherweise sogar kommerziell erfolgreich ist, oder zumindest bei den Musikjournalisten erfolgreich ist. Wo steckt da noch der Punk.
Lottmann: Ja, bei den Trash Girls zum Beispiel, die ich am Wochenende gesehen habe, hier in Berlin, da habe ich mir gedacht: Vier wahnsinnig gut aussehende Pornodarstellerinnen - kann das wirklich ernst genommen werden? Aber dann haben sie eben sich so schamlos irgendwie auf diese Punkelemente geworfen, dass es wieder so etwas Unkritisierbares bekam. Diese Wildheit und diese ausgestellte Exzentrik, dagegen kann man doch einfach nichts sagen. Wie soll man da mit dem Nörgeln anfangen? Es wäre wirklich absurd, genauso könnte man jemanden kritisieren wollen, der gerade einen Lachkrampf kriegt oder so. Das ist so elementar, das kann man intellektuell nicht wegdrücken.
Kassel: Im Gespräch in Deutschlandradio Kultur Joachim Lottmann, heute vor allen Dingen Buchautor und Essayist, damals, 1976, Musikjournalist und Schreiberling bei der Zeitschrift "Sounds". 1976, das Jahr, in dem die erste Single der Sex Pistols "Anarchy in the U.K." in die Läden kam.