"Das Wachstum ruht auf einem gigantischen Schuldenberg"

Meinhard Miegel im Gespräch mit Christopher Ricke |
Nach Ansicht des Publizisten Meinhard Miegel hat sich die Wachstumsphilosophie erschöpft. Man brauche eine neue Definition von Produktivität, die von einer Schonung der Umwelt und des Kapitals ausgehe.
Christopher Ricke: Ganz schnell ein kleiner volkswirtschaftlicher Grundkurs. Nur wer Geld hat, kann es auch ausgeben, und wenn man die Steuern senkt, haben die Menschen mehr Netto vom Brutto. Und dann geben die das Geld aus, und das ist gut für das Wachstum. Stark verkürzt ist das eine Grundidee der neuen Bundesregierung, und weiter: Das so erzeugte Wachstum mehrt dann wieder die Einnahmen des Staates. Der politische Gegner sagt dazu, bisher hat es nur der Baron von Münchhausen geschafft, sich samt Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Dennoch: es gibt viel Optimismus in der Regierung. Die Bundeskanzlerin beschrieb das am Wochenende so:

"Deshalb, sage ich, haben wir uns entschlossen, ja, einen Pfad zu gehen, der voll auf Wachstum setzt, der keine Garantie ist dafür, dass es klappt, aber der die Chance bietet, dass es klappt. Und bei Sparen, Sparen, Sparen sehe ich keine Chance, dass wir es schaffen können."

Ricke: Also Wachstum, Wachstum, Wachstum, das soll es richten. Wird es aber nicht, sagen manche. Dazu gehört auch der Vordenker Meinhard Miegel, der Vorstand des Denkwerks Zukunft und wissenschaftliche Leiter des Ameranger Disputs der Ernst-Freiberger-Stiftung. Guten Morgen, Herr Miegel.

Meinhard Miegel: Schönen guten Morgen!

Ricke: Warum misstrauen Sie der Kanzlerin denn so sehr? Die Politik des billigen Geldes hat uns doch immerhin bisher ganz ordentlich durch die Krise geführt.

Miegel: Ja, das ist schon richtig. Man kann sagen, wir geben jetzt Geld aus. Man kann auch sagen, wir borgen uns Geld in der Zukunft und bei der nächsten Generation und das geben wir dann auch noch aus. Aber man muss insgesamt ja konstatieren, dass sich diese Wachstumsphilosophie, der ganze Wachstumskurs erschöpft hat. Wenn man sich einmal anschaut, wie wir während der zurückliegenden 30, 40 Jahre versucht haben, Wachstum zu erzeugen, dann ist das ja schon einigermaßen ernüchternd. Das Wachstum, was wir heute haben, ruht auf einem gigantischen Schuldenberg, und wenn wir den einmal abziehen und wenn wir ferner abziehen die Schäden, die durch dieses Wachstum entstehen, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass sich eigentlich seit langer Zeit nichts mehr wirklich wohlstandsmehrend bewegt.

Ricke: Aber Stillstand ist doch Rückschritt und keiner will auf irgendwelche Versorgungs- und Situationen zurück, die vor Jahren mal bestanden haben?

Miegel: Das ist möglicherweise nicht auszuschließen. Natürlich versucht jeder, weiterzukommen, und jeder, mehr zu haben, aber wir müssen doch im Auge behalten, dass das, was wir gegenwärtig haben, dazu geführt hat, dass viele Dinge kaputt gegangen sind. Wenn man sich einmal die ganze Debatte über Klima und natürliche Ressourcen und Umweltschutz und alles, was da zusammenkommt, anschaut, dann muss man ja doch zur Kenntnis nehmen: Das ist die andere Seite der Münze, wo vorne Wachstum draufsteht, und hinten stehen eben diese Dinge. Oder wie die Gesellschaft beansprucht worden ist, der einzelne Mensch, das alles hat ja seinen Preis gehabt.

Ich kann natürlich sagen, ich möchte gerne weitermachen da wo ich bin, ich möchte gerne das gegenwärtige Niveau halten oder möglichst noch steigern, aber ich kann ganz einfach nicht ignorieren, dass der Preis für diese Art von Haltung inzwischen immens ist.

Ricke: Aber Herr Miegel, wenn ich Ihnen folge, begebe ich mich direkt in eine Abwärtsspirale, denn es ist eine Tatsache, dass Wirtschaft immer produktiver wird. Wenn ich jetzt inne halte und sage, ich verzichte auf Wachstum, dann baue ich damit automatisch Arbeitsplätze ab und das treibt ein ganzes Land nach unten.

Miegel: Jetzt kommt es darauf an, wie wir "produktiv" definieren. Wenn ich sage, die Wirtschaft wird produktiver in dem Sinne, dass sie mit weniger Rohstoffen auskommt, dass sie weniger Energie benötigt, dass der Kapitaleinsatz zurückgeht, dann wird sie ja auch produktiver. Dann ist das etwas rundum Positives, das ist eine Form von Wachstum, die man nur fördern kann, von der man sagen muss, diese Art von Wachstum brauchen wir.

Wenn wir argumentieren, wir müssen ständig mehr produzieren, mehr Autos auf die Straße stellen, mehr Wohnungen bauen, damit die Menschen arbeiten können, dann nimmt man mal einen Taschenrechner zur Hand und sagt: Wie lange soll denn dieses Spiel gehen? Wir sagen, wir haben einen Produktivitätszuwachs beispielsweise von einem Prozent. Infolgedessen muss ein Prozent mehr Güter auf den Markt gebracht werden und das über 10, 20, 30 Jahre. Wann soll denn dieser Kurs mal zu Ende gehen? Wir können ja nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag sagen, wir werden immerzu an Volumen zunehmen, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt sich auf diese Art und Weise verzehnfacht oder verhundertfacht.

Ricke: Jetzt geht es ja nicht nur um uns, sondern es geht in einer globalisierten Wirtschaft um die ganze Welt, und Sie werden doch zugeben, dass Wachstumsbedarf in sehr vielen Ländern dringend auch erfüllt werden muss.

Miegel: Absolut! Es gibt einen großen Teil der Menschheit, ungefähr vier Fünftel, die leben in solcher existenziellen Bedrängnis, dass die selbstverständlich ihre materiellen Güter noch mehren müssen. Wir können nicht sagen, ein Teil der Menschheit lebt mit einem Sechstel oder einem Zehntel dessen, was wir haben. Aber gerade weil so viele Menschen noch hochkommen müssen, Rohstoffe brauchen, Energie brauchen, auch die Umwelt weiter belasten werden durch diese Produktion, bedeutet das im Umkehrschluss für uns, die wir schon ganz oben sind, dass wir diese Art von Kurs nicht weiterfahren können.

Ricke: Aber wir können es doch nicht alleine tun. Wenn alles andere wächst, wenn alles andere besser wird, wächst die Konkurrenz und das fällt uns letztlich wieder auf die Füße.

Miegel: Nicht ganz. Noch einmal: Wir stehen ganz, ganz oben. Wir haben das Zehnfache dessen, was die meisten Menschen haben. Wir haben selbst das Sechsfache dessen, was die Chinesen heute erwirtschaften. Und wenn die jetzt hochkommen, wenn die sich auf ein Niveau entwickeln, wo sie halb so viel haben wie wir, was ja schon eine gewaltige dynamische Entwicklung in diesen Regionen der Welt wäre, dann wären wir nicht zurückgefallen. Dann können wir nicht sagen, die anderen ziehen an uns vorbei, sondern wir sind, um aus dem Radsport ein Beispiel zu nehmen, Ausreißer, wir sind ganz vor dem Feld und jetzt rückt das Hauptfeld auf, und das werden wir nicht verhindern können.