Das Volk, der große Lümmel

Von Konrad Adam |
Vor Jahren hat das Bundesverfassungsgericht den Anschluss an die Zeit gefunden, als es in einer unanfechtbaren Entscheidung die Lebensgemeinschaft zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechtes, derjenigen zwischen Mann und Frau, der herkömmlichen Ehe also, gleichstellte. Ein letzter, bescheidener Abstand wurde dadurch gewahrt, dass die eine Verbindung Partnerschaft, die andere hingegen Ehe heißen sollte; nur dass auch diese Differenz mit der Zeit verkürzt und schließlich aufgehoben werden dürfte.
Diejenigen politischen Kräfte, denen es mit der Gleichstellung der Geschlechter gar nicht schnell und weit genug vorangehen kann, arbeiten schon so lange und mit so viel Energie auf dies Ergebnis hin, dass es wohl nur noch eine Frage der Zeit ist, bis das Verfassungsgericht nachgibt und den Gleichstellern auch in dieser Frage zu ihrem letzten großen Sieg verhilft.

Wenn es soweit ist, könnten sich die deutschen Verfassungsrichter auf den Obersten Gerichtshof Kaliforniens berufen. Der nämlich hat in diesen Tagen den allerletzten Unterschied zwischen der Ehe alten und neuen Rechts demonstrativ beseitigt. Von nun an darf sich in dem amerikanischen Bundesstaat die gleichgeschlechtliche Partnerschaft Ehe nennen und an den vielfältigen Rechten und Pflichten, die mit diesem Begriff verbunden sind, teilhaben. Die Ehe wird damit auf den Status, auf das vertraglich oder sonst wie geregelte Rechtsverhältnis zwischen zwei Personen gleich welchen Geschlechtes zurückgenommen; von ihrer hergebrachten Aufgabe, Kinder in die Welt zu setzen, sie zu erziehen und durch die Arbeit an der nächsten Generation dem Staat, der Gesellschaft und der Nation Dauer zu verleihen, ist keine Rede mehr - obwohl der Nachwuchs zweifellos im Zentrum dessen stand und steht, was die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Begriff Ehe in Verbindung bringt.

In Kalifornien lässt sich diese Mehrheit beziffern, ziemlich genau sogar. Bei einer Volksabstimmung, die vor Jahren abgehalten worden war, belief sich die Majorität, die den homosexuellen Partnerschaften den Ehetitel verweigern wollte, auf mehr als 60 Prozent. Die Richter hat das freilich nicht davon abgehalten, jetzt anders zu beschließen, den Ausgang des Referendums zu verwerfen und sich mit ihrem Urteil über den Volkswillen hinwegzusetzen. Nicht das Volk, so lässt sich die Entscheidung deuten, ist Herr der Verfassung und ihrer wichtigsten Begriffe; Herr der Verfassung sind die Spezialisten, in diesem Fall: die Fachleute für öffentliches Recht. Die Richter schwimmen mit im Strom der Zeit, der ja auch sonst darauf hinausläuft, den Laien durch den Fachmann zu ersetzen.

Auch die Justiz ist eben keineswegs immun gegen den Druck der öffentlichen Meinung, sie gibt ihr mindestens ebenso gerne nach wie sie sich ihr widersetzt. Als das, was man Verfassung nennt, soll ab sofort nicht mehr der Wille des Souveräns gelten, sondern das, was sein Vormund, das oberste Gericht, aus diesem Willen macht; dem hat sich dann das Volk, der Souverän, zu fügen. Es ist eine offene Frage, wie sich dies Rechtsverständnis mit jenem kurzen Text verträgt, der von den Amerikanern bis heute ebenso hochgehalten wird wie die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung selbst, ich meine die Gettysburg Address, die Abraham Lincoln vor 150 Jahren zu Ehren der im Bürgerkrieg Gefallenen gesprochen hat.

In diesem Text findet sich die berühmte Formel, die von der Demokratie als einer Regierung aus dem Volk, durch das Volk und für das Volk spricht. Aber wie soll das Volk regieren, wenn ihm ein Gremium von sieben Fachleuten über den Mund fahren darf? Was bleibt von seiner Herrschaft übrig, wenn die Stimme des Volkes, vorgebracht im Plebiszit, ebenso leicht verworfen werden kann wie die Stimme seiner gewählten Vertreter, vorgetragen durch das Parlament? Wo so etwas zur Regel wird, wirft sich die dritte Gewalt, die Justiz, zur ersten auf. Die Regierung wird dann nicht mehr aus dem Volk oder durch das Volk ausgeübt, sondern allenfalls noch für das Volk, in seinem Namen und zu seinen Gunsten. Weder die Wähler noch ihre privilegierten Stellvertreter, die Gewählten, haben das letzte Wort. Das letzte Wort liegt bei den Ernannten, den Fachleuten für dies und das. Und sie waren vom Volk, dem großen Lümmel, schon immer weit entfernt. Sie wollen seinen Willen nicht vollziehen, sondern deuten, formen, gegebenenfalls auch korrigieren. So, wie sie es jetzt in Kalifornien getan haben.

Konrad Adam, Journalist und Autor. Er wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, arbeitete dann für die WELT und für die FAZ. Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem 'Die Ohnmacht der Macht', 'Für Kinder haften die Eltern', 'Die Republik dankt ab' sowie 'Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen'. Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".